Gefährdungsbeurteilung
Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Element im betrieblichen Arbeitsschutz. Sie ist die Grundlage für ein systematisches und erfolgreiches Sicherheits- und Gesundheitsmanagement. Bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen ist eine inkludierte Gefährdungsbeurteilung erforderlich.
Eine Grundpflicht des Arbeitgebers nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ist es, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um gesundheitliche Gefahren für die Beschäftigten zu vermeiden und die verbleibenden Gefahren möglichst gering zu halten (§ 3 ArbSchG).
Diese Verpflichtung besteht unabhängig von der Betriebsgröße. Die Ausnahmeregelungen für Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten ist 2013 gestrichen worden – demnach gilt die Dokumentationspflicht nach § 6 ArbSchG für alle Betriebe ab dem ersten Beschäftigten.
Welche Maßnahmen zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren erforderlich sind, wird durch eine Gefährdungsbeurteilung ermittelt (§ 5 ArbSchG). Hierbei werden die Gefahren am Arbeitsplatz und im Arbeitsumfeld ermittelt und beurteilt; gegebenenfalls erforderliche Arbeitsschutzmaßnahmen sind eigenverantwortlich durch den Arbeitgeber einzuleiten und deren Wirksamkeit ist zu überprüfen.
Eine Gefährdungsbeurteilung ist für jede ausgeübte Tätigkeit beziehungsweise jeden Arbeitsplatz zu erstellen. Hierbei sind auch die Belange besonders schutzbedürftiger Personen zu berücksichtigen, etwa Schwangere oder stillende Mütter, Jugendliche, Menschen mit Behinderung.
Jedes Unternehmen ab einem Beschäftigten muss die Gefährdungsbeurteilung nach §§ 10 Absatz 1 Nummer 1 und 14 Absatz 2 Mutterschutzgesetz (MuSchG) für alle Tätigkeiten beziehungsweise für jeden Arbeitsplatz durchführen, unabhängig davon, ob Schwangere oder stillende Frauen beschäftigt sind oder werden.
Bei gleichartigen Betriebsstätten, gleichen Arbeitsverfahren und gleichen Arbeitsplätzen ist die Beurteilung eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreichend. Bei nicht stationären Arbeitsplätzen ist eine arbeitsplatzbezogene Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, die die Verhältnisse vor Ort berücksichtigt.
Die Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsarzt haben nach dem Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) die Aufgabe, den Arbeitgeber in allen Fragen der Arbeitssicherheit und der Beurteilung der Arbeitsbedingungen sowie bei der Gefährdungsbeurteilung zu unterstützen (§§ 3, 6 ASiG, DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“). Sie sind bei der Anwendung ihrer Fachkunde weisungsfrei (§ 8 ASiG).
Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung
Wie die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist, ist im Arbeitsschutzgesetz nicht detailliert festgeschrieben; es werden nur Grundsätze benannt. Die Anforderungen an die Gefährdungsbeurteilung werden in den Verordnungen zum Arbeitsschutz themenbezogen konkretisiert (siehe unten). Je nach Branche und örtlichen Gegebenheiten sind verschiedene Vorgehensweisen möglich.
Ein Handbuch mit Grundlagen und Prozessschritten der Gefährdungsbeurteilung (GB) sowie Leitfäden zum Erstellen von GB in den verschiedenen Branchen bietet die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin auf ihrem GB-Portal zum Herunterladen.
Ermittlung und Bewertung möglicher Gefahrenquellen
Die betriebsspezifische Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt alle voraussehbaren Arbeitsabläufe. Dabei sind auch Ereignisse und Aufgaben, die außerhalb des „Normalbetriebs“ stattfinden, mit einzubeziehen: zum Beispiel Instandhaltungsarbeiten, In- und Außerbetriebnahmen, Betriebsstörungen, Reinigungsarbeiten oder Abfallbeseitigung. Zu den möglichen Gefahrenquellen zählen unter anderen:
- mechanische und elektrische Gefährdungen an Arbeitsplatz und Arbeitsstätte
- physikalische, chemische und biologische Arbeitsmaterialien
- Brand- und Explosionsgefährdungen
- gefährdende Bedingungen in der Arbeitsumgebung (Hitze, Kälte, Lärm, Vibrationen, Strahlung, Druck, Licht, Klima)
- Auswahl und Einsatz von Arbeitsmitteln (Maschinen, Geräte und Anlagen) und der Umgang damit
- physische und psychische Belastungen
- Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitszeit sowie deren Zusammenwirken
- organisatorische Mängel (Erste Hilfe, Fluchtwege)
- unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten
Die Aufzählung ist nicht abschließend, es kann weitere Gefährdungsfaktoren geben. Sie ergeben sich aus verschiedenen Verordnungen, die das Arbeitsschutzgesetz konkretisieren, zum Beispiel die
- Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV)
- Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV)
- Gefahrstoffverordnung (GefStoffV).
Sobald eine Gefährdung entdeckt wird, ist das potenzielle Risiko für die Beschäftigten unter Berücksichtigung der Belange von besonders schutzbedürftigen Personen (Jugendliche, Schwangere und stillende Mütter, Menschen mit Behinderung) zu bewerten. Dabei ist die Einhaltung von Rechtsvorschriften und Regeln, die den Stand der Technik und der Arbeitswissenschaft wiedergeben, zu prüfen. Ist das Risiko nicht akzeptabel, sind erforderliche Maßnahmen sowie die Dringlichkeit ihrer Umsetzung festzulegen.
Die Gefährdungsbeurteilung ist kein einmaliger, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Sie ist spätestens immer dann zu überprüfen, wenn sich die betrieblichen Gegebenheiten verändert haben, zum Beispiel beim Einsatz anderer Arbeitsstoffe, bei der Einrichtung neuer Arbeitsplätze oder der Änderung von Arbeitsverfahren.
Beteiligung der Beschäftigten
Die Beschäftigten sollten bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung einbezogen werden: Sie kennen die tatsächliche Ausführung der Arbeit am besten und haben vielleicht schon gefährliche Situationen und Betriebszustände erlebt, die beachtet werden sollten.
Betriebsrat oder Personalrat und, soweit vorhanden, die Schwerbehindertenvertretung sind am Prozess der Gefährdungsbeurteilung zu beteiligen (§ 89 BetrVG, § 68 BPersVG, § 178 Absatz 2 SGB IX).
Arbeitsschutzausschuss
Ab einer Betriebsgröße von 20 Mitarbeitern ist die Bildung eines Arbeitsschutzausschusses (ASA) vorgeschrieben (§ 11 ASiG). Die nachfolgend genannten Mitglieder des ASA sind an der Planung und Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zu beteiligen:
- Unternehmer/Arbeitgeber oder ein von ihm Beauftragter
- 2 Mitglieder des Betriebs- oder Personalrates
- Betriebsarzt
- Fachkräfte für Arbeitssicherheit/Sicherheitsingenieure
- Sicherheitsbeauftragte nach § 22 SGB VII
Hinzukommen können die Schwerbehindertenvertretung, Jugendvertretung, Fachleute, wie zum Beispiel Arbeitspsychologen, Suchtbeauftragte, Umweltbeauftragte oder externe Berater. Der Arbeitsschutzausschuss sollte mindestens viermal im Jahr tagen.
Inkludierte Gefährdungsbeurteilung
Menschen mit Behinderungen benötigen im Beruf häufig andere Schutzmaßnahmen als Arbeitnehmer ohne Behinderung, zum Beispiel bei motorischen oder sensorischen Einschränkungen. Deshalb ist es wichtig, auch diese speziellen Gefahren, die sich durch die Behinderung ergeben, in der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, zu bewerten und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Kenntnisse über Auswirkungen und spezielle Gefährdungen bei den verschiedenen Behinderungen, die Dokumentation dieser Gefahren oder die erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr bestehen vor Ort häufig nicht.
Um Arbeitgeber bei der Erstellung einer inkludierten Gefährdungsbeurteilung zu unterstützen, hat das Integrationsamt des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) gemeinsam mit dem sicherheitswissenschaftlichen Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie e.V. (ASER) eine Methodik entwickelt, mit der überprüft werden kann, ob geplante oder vorhandene Arbeitsstätten und Betriebsmittel einen sicheren Betriebsablauf für Menschen mit Behinderung gewähren. Eine Handlungshilfe, die auch zum Download bereitsteht, wurde am Beispiel von Menschen mit Hörbehinderung erarbeitet. Sie kann mit entsprechenden Modifikationen auch auf andere Behinderungsarten übertragen werden.
Stand: 30.09.2022