Vertrauensvoll, authentisch, BEM

Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist ein wichtiges Mittel, um Beschäftigte nach einer längeren Erkrankung dabei zu unterstützen, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden. Der Wahnbachtalsperrenverband in Siegburg ist etwas andere und erfolgreiche Wege bei der Gestaltung seines BEM-Verfahrens gegangen und gewinnt die BEM-Prämie 2023.

Hoffstadt, Schulz und Süß vor den Rohrleitungen
Rohrleitungen in blau und grün mit teilweise fast einem Meter Durchmesser
Rohrleitungen mit teilweise fast einem Meter Durchmesser

Die Wahnbachtalsperre liegt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Bonn bei Siegburg und versorgt rund 800.000 Menschen in der Region mit Trinkwasser. Der 1953 gegründete Wahnbachtalsperrenverband, kurz WTV, betreibt den 1958 fertiggestellten Stausee. Neben den Grundwasserbrunnen, der Talsperre und den Aufbereitungsanlagen verantwortet der WTV auch die gesamte Versorgungsinfrastruktur wie das 230 Kilometer lange Rohrleitungssystem für das Trinkwasser. „Wir bereiten das Wasser auf und liefern es an die unterschiedlichen Stadt- und Gemeindewerke“, erklärt WTV-Geschäftsführerin Ludgera Decking. Rund 225 Beschäftigte arbeiten täglich an der Aufbereitung und der Qualitätssicherung des Trinkwassers.

„Die Trinkwasserversorgung zählt zur kritischen Infrastruktur“, sagt Susanne Hoffstadt, die beim WTV die Personalentwicklung leitet. So habe es während der Coronapandemie auch keine Kurzarbeit beim Verband gegeben. Das Gros der WTV-Beschäftigten kommt aus dem Handwerk. Das sind unter anderem Industriemechaniker, Elektriker oder im Bereich der „grünen Berufssparten“, wie sie Hoffstadt nennt, sind Landschaftspfleger, Landwirte und Forstwirte angestellt. Der dritte große Arbeitsbereich beim WTV ist das Labor mit seinen biologischen und chemischen Laboranten. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten beim Verband liegt bei 43 Jahren.

BEM auf neue Wege geleitet

Bei 225 Mitarbeitern gibt es beim Wahnbachtalsperrenverband selbstverständlich immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die länger ausfallen, zum Beispiel nach einem Unfall oder einer schwerwiegenden Erkrankung. Und wie andere Arbeitgeber auch ist der WTV seit Einführung des SGB IX im Jahr 2004 verpflichtet, den Beschäftigten ein Betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten. Das bedeutet konkret: Der Arbeitgeber klärt bei einer wiederholten oder ununterbrochenen Arbeitsunfähigkeit von länger als sechs Wochen, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden oder erneute Arbeitsunfähigkeit verhindert werden kann.

Generell gibt es für ein BEM-Verfahren kein vorgegebenes Schema. Es sollte aber eine auf den Betrieb abgestimmte Vorgehensweise entwickelt werden, die in jedem Einzelfall Anwendung findet. Und genau das hat der WTV gemacht und sein BEM im Jahr 2021 neu aufgestellt. Im Mittelpunkt des neuen BEM-Verfahrens stehen die Dienstvereinbarung, die Susanne Hoffstadt (rechts) mit auf den Weg gebracht hat, sowie der externe Koordinator Jochen Müller, der als Schnittstelle zwischen den betroffenen Beschäftigten, dem Arbeitgeber und den Behörden fungiert.

„Und wie andere Arbeitgeber auch ist der WTV seit Einführung des SGB IX im Jahr 2004 verpflichtet, den Beschäftigten ein Betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten.”
Ein gigantischer Wasserüberlauf, der mit Flutlicht ausgeleuchtet ist
Gigantischer Wasserüberlauf

Prägnanter Flyer legt BEM-Verfahren offen

Der 43-Jährige Müller kennt sich aus mit BEM – bereits seit mehr als 20 Jahren arbeitet er im Themenfeld von Gesundheit und Beruf. Seine Ausbildung und diverse Weiterbildungen hat er bei der Verwaltungsberufsgenossenschaft absolviert. Weitere Stationen waren der TÜV-Rheinland und eine Unternehmensberatung, bevor er sich dann vor fünf Jahren in Köln selbstständig gemacht hat. Seit 2021 ist Müller auch beim WTV an Bord und hat dort unter anderem das BEM-Verfahren mitentwickelt.

Die WTV-Beschäftigten wurden mit einem prägnanten und kurzen Flyer über das Verfahren informiert. Wenn beispielsweise die Personalabteilung die Krankenstände auswertet und im Zuge dessen Beschäftigte ermittelt, die die 6-Wochen-Frist überschritten haben, nimmt Müller den ersten Kontakt auf und informiert über das BEM und über den Datenschutz. Im Zuge dessen holt der BEM-Koordinator die grundsätzliche Zustimmung des Beschäftigten zum Verfahren ein. In einem vertraulichen Erstgespräch klärt Koordinator Müller mit dem Mitarbeitenden die Ursachen der Erkrankung und den Grad der Leistungsfähigkeit. Gemeinsam mit dem Arbeitgeber und den weiteren Beteiligten (Betriebs- oder Personalrat und – bei schwerbehinderten Beschäftigten – die Schwerbehindertenvertretung) werden daraufhin mögliche Maßnahmen zur Eingliederung, wie eine veränderte Arbeitsplatzgestaltung, besprochen. Im nächsten Schritt werden die beschlossenen Maßnahmen umgesetzt und überprüft, um eventuell Korrekturen vornehmen zu können. Sind keine weiteren Schritte erforderlich bzw. möglich, wird das BEM beendet. „Im Normalfall dauert das BEM-Verfahren rund sechs Monate“, sagt Müller. Abhängig von den Maßnahmen und dem Krankheitsbild könne es aber auch bereits nach drei Monaten beendet werden, oder – meist bei psychischen Erkrankungen – länger dauern, so der Gesundheitsexperte.

Dienstvereinbarung bindet Arbeitnehmervertretung aktiv ein

Um den Prozess transparent und für alle verbindlich zu machen, wurde im September 2022 eine Dienstvereinbarung zum BEM abgeschlossen. Gemeinsam unterzeichneten Geschäftsführung und Personalrat, unterstützt auch durch die Schwerbehindertenvertretung, eine Vereinbarung, die Ziele, Geltungsbereich, Ablauf und Evaluation des BEM zum Inhalt hatten. „Die Dienstvereinbarung zeigt, wer welche Rolle im BEM-Verfahren einnimmt. Gleichzeitig wollen wir klar machen: Geschäftsführung und Arbeitnehmervertretung stehen gemeinsam hinter dem BEM-Verfahren“, sagt Personalerin Hoffstadt.

Koordinator Müller ist zufrieden mit der Entwicklung des BEM beim WTV in den vergangenen zwei Jahren. „Berater von außen, die nicht in die Unternehmensstruktur eingebunden sind, bringen einen frischen, neutralen und unvoreingenommenen Blick mit“, sagt Müller. Das fördere auch die Akzeptanz bei den Beschäftigten, die ein Verfahren durchlaufen, sagt er. Der weitere Vorteil sei, dass er aus dem Fundus seiner Erfahrungen mit anderen Firmen schöpfen könne.

Maler Stefan Schulz kniet auf einem Knie auf dem abgedeckten Boden und streicht eine Wand unter einem Fensterbrett.
Maler Stefan Schulz beim Streichen

Ein Beispiel: Maler Stefan Schulz

Wichtig für ein funktionierendes BEM sei die Freiwilligkeit, sagt Müller. „Es bringt gar nichts, wenn Beschäftigte gezwungen werden, ein Verfahren zu durchlaufen“, sagt er. „Man muss authentisch bleiben, damit der Mitarbeiter Vertrauen fasst.“ Bei der Annahme für ein Erstgespräch liege man beim WTV jetzt bei 70 bis 80 Prozent – eine gute Quote. „Das habe ich in der Vergangenheit schon anders erlebt.“ Und das liege nicht nur an seiner Person, sondern auch an der Konstruktion beim WTV, die den Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung aktiv einbindet.

Auch Stefan Schulz hat beim WTV freiwillig das BEM-Verfahren durchlaufen. Seit 33 Jahren ist er beim Verband als Maler in der Rohrnetzabteilung angestellt. Diese Abteilung ist für die Wartung und Pflege der Trinkwasserrohrleitungen zuständig. Vor drei Jahren wollte der heute 60-Jährige seine Tochter im Nachbarort mit seinem E-Bike besuchen. Dabei ist er mit seinem Vorderrad auf nassem Laub ausgerutscht und knallte auf die Straße. „Zum Glück kam ein Auto – der Fahrer hat dann einen Krankenwagen gerufen, der mich ins Siegburger Krankenhaus gefahren hat“, erzählt Schulz. Dort habe man seine Platzwunde am Kopf genäht und vorsichtshalber eine Computertomographie angefertigt. Das Ergebnis: Der Hals des Malers war zweimal gebrochen. „Ich habe richtig Glück gehabt – mit einer abseitigen Bewegung hätte das auch ganz anders ausgehen können“, sagt der Handwerker. Schulz hatte Glück im Unglück, weil die Halsbrüche operabel waren. „Auch wenn ich heute permanent Rücken- und Kopfschmerzen habe, freue ich mich, dass ich mich überhaupt noch bewegen kann.“

„Kein Beschäftigter muss Angst vor einer Kündigung haben, wenn er eine Einladung zum BEM-Gespräch erhält – im Gegenteil, BEM-Gespräche sollen vielmehr als Chance wahrgenommen werden, den Arbeitsplatz neu zu gestalten.“
Alina Süß, LVR-Inklusionsamt

Im Mai 2021 startete Schulz dann die stufenweise Wiedereingliederung und damit auch sein freiwilliges BEM-Verfahren – koordiniert von Jochen Müller, der ihn im medizinischen und rehabilitativen Verlauf begleitete. Schnell war klar, dass der ausgebildete Maler nicht mehr in seinem alten Job arbeiten konnte. „Vor allem wenn ich über Kopf arbeite, was bei einem Maler oft vorkommt, habe ich mit Schwindel zu kämpfen“, erzählt er. Zunächst wurde das Leistungsbild des Handwerkers durch den Betriebsarzt und den behandelnden Arzt geklärt. Analog zum neuen Leistungsbild wurde die Jobbeschreibung angepasst. Dazu wurde auch eine personelle Unterstützung und ein Beschäftigungssicherungszuschuss beim LVR-Inklusionsamt beantragt und gewährt.

Dank eines erfolgreichen BEM-Verfahrens kann Schulz heute wieder in Vollzeit mit einem Grad der Behinderung von 30 und einer Gleichstellung in seinem alten Job mit leichten Anpassungen arbeiten. Auch nach seinem Verfahren wendet sich Schulz bei Fragen an den BEM-Koordinator. „Das schätze ich besonders an Jochen Müller: Er begleitet unsere Mitarbeitenden über das BEM-Verfahren hinaus“, sagt WTV-Geschäftsführerin Decking. „Gleichzeitig hat er aufgrund seiner Historie einen guten Draht zu verschiedenen Trägern der Sozialversicherung und kümmert sich um alle Formulare und Bescheinigungen“, erläutert sie.

Portraitfoto von Alina Süß
Alina Süß im Portrait

Beschäftigte wollten Krankheit nicht offenlegen

Die BEM-Gespräche, die zuvor von der Personalabteilung geführt wurden, seien von den Mitarbeitern zurückhaltend angenommen worden, sagt die Geschäftsführerin. „Muss ich jetzt offenlegen, welche Krankheit ich gerade habe?“, das sei die vorherrschende Haltung der Beschäftigten gewesen. Das habe sich mit dem externen Koordinator geändert. Nach ein, zwei erfolgreichen BEM-Verfahren habe sich die Expertise Müllers unter den Mitarbeitenden rumgesprochen, sagt Decking. „Heute wenden sich die Mitarbeitenden teilweise direkt an den Berater – eine tolle und wichtige Entwicklung.“

Diese positive Entwicklung beim WTV war auch dem LVR-Inklusionsamt nicht verborgen geblieben. Es zeichnete 2023 den Wahnbachtalsperrenverband mit der BEM-Prämie aus. Seit 2007 vergibt das LVR-Inklusionsamt in Köln jährlich an fünf Arbeitgeber die so genannte BEM-Prämie für die vorbildliche Einführung von BEM-Verfahren. Dazu muss in den ausgewählten Betrieben ein Betriebsrat oder Personalrat vorhanden sein, das Unternehmen muss die Quote von schwerbehinderten Beschäftigen erfüllen und der Sitz muss in der Region, im Rheinland, liegen. Die Auszeichnung wird mit einem Preisgeld von 10.000 Euro dotiert.

BEM ist eine Chance

„Kein Beschäftigter muss Angst vor einer Kündigung haben, wenn er eine Einladung zum BEM-Gespräch erhält – im Gegenteil, BEM-Gespräche sollen vielmehr als Chance wahrgenommen werden, den Arbeitsplatz neu zu gestalten“, sagt Alina Süß, die sich beim LVR-Inklusionsamt auch um die Vergabe der BEM-Prämie kümmert. Wie das funktionieren kann, habe der Preisträger WTV mit seinem unabhängigen BEM-Koordinator vorbildlich gezeigt, sagt die BEM-Expertin vom LVR-Inklusionsamt.

Bildergalerie

Portraitfoto Stefan Schulz

Maler Stefan Schulz ist seit den 90er Jahren beim WTV beschäftigt | Foto: Rupert Oberhäuser

Portraitfoto Susanne Hoffstadt

Susanne Hoffstadt ist unter anderem für Personalentwicklung und BEM zuständig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Portraitfoto Ludgera Decking

Ludgera Decking leitet den WTV. | Foto: Rupert Oberhäuser

Portraitfoto Ralf Wiemar

Ralf Wiemar ist Mitglied des Personalrats. | Foto: Rupert Oberhäuser

Portraitfoto Alina Süß

Alina Süß ist beim LVR-Inklusionsamt für BEM zuständig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Blaue und grüne Rohrleitungen mit teilweise fast einem Meter Durchmesser.

Der WTV bereitet Trinkwasser für die Region auf - in riesigen Wasserrohren. | Foto: Rupert Oberhäuser

BEM-Flyer und Urkunde für die BEM-Prämie

Die BEM-Prämie wird seit 2013 vergeben. | Foto: Rupert Oberhäuser

Hoffstadt, Decking und Süß im Gespräch an einem Tisch

Susanne Hoffstadt, Ludgera Decking und Alina Süß im Gespräch. | Foto: Rupert Oberhäuser

Maler Stefan Schulz ist seit den 90er Jahren beim WTV beschäftigt | Foto: Rupert Oberhäuser

Susanne Hoffstadt ist unter anderem für Personalentwicklung und BEM zuständig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Ludgera Decking leitet den WTV. | Foto: Rupert Oberhäuser

Ralf Wiemar ist Mitglied des Personalrats. | Foto: Rupert Oberhäuser

Alina Süß ist beim LVR-Inklusionsamt für BEM zuständig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der WTV bereitet Trinkwasser für die Region auf - in riesigen Wasserrohren. | Foto: Rupert Oberhäuser

Die BEM-Prämie wird seit 2013 vergeben. | Foto: Rupert Oberhäuser

Susanne Hoffstadt, Ludgera Decking und Alina Süß im Gespräch. | Foto: Rupert Oberhäuser

Die BEM-Prämie

Die Integrations- und Inklusionsämter engagieren sich in den letzten Jahren verstärkt im Bereich der Prävention. Sie können aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe für ein erfolgreiches und vorbildliches BEM Prämien vergeben. Die einzelnen Ämter nutzen diese Möglichkeit unterschiedlich. Im Rheinland wird nach §185 SGB IX Abs. 3 vom LVR-Inklusionsamt jährlich eine Prämie an bis zu fünf Arbeitgeber vergeben.

Andere Bundesländer vergeben Prämien zu anderen Aspekten der beruflichen Teilhabe und Prävention.

Kontakt und Informationsmöglichkeiten

Weitere Infos zum BEM finden Sie im nächsten Artikel oder im Fachlexikon der BIH. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten finden Sie auf der Website der BIH.

Das könnte Sie auch interessieren ...


Carsten Schönebeck vor einem Spezial-Bildschirmarbeitsplatz mit Liegemöglichkeit.
Reportage

Schmerzfrei im Liegen arbeiten

Seit der an Morbus Crohn erkrankte Carsten Schönebeck den Großteil seiner Bürotätigkeit beim Duisburger Mittelständler Brabender im Liegen verbringt, kann er wieder schmerzfrei arbeiten. Ein vom LVR-Inklusionsamt geförderter High-Tech-Arbeitsplatz macht das möglich.

Benjamin Schlewek an seinem Arbeitsplatz in der Federmontage
Titelthema

EINE Ansprechpartnerin ist Gold wert!

Mit Hilfe der Einheitlichen Ansprechstelle für Arbeitgeber (EAA) konnte die Firma Klöber, Produzent hochwertiger Sitzmöbel in Owingen, einen neuen Mitarbeiter für ihre Federmontage gewinnen. Wie, zeigt ein neuer Film des KVJS-Integrationsamts.

Nahaufnahme von zwei Menschen, die einander die Hand schütteln
Bericht

EAA: So funktioniert`s in Baden-Württemberg

Martin Weiland ist der Sonderbeauftragte zur Umsetzung der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Im April informierte er sich über die EAA in Baden-Württemberg.