Jürgen Dusel sitzt an einem Tisch. Er trägt ein weißes Hemd und ein dunkelblaues Sakko. Er gestikuliert mit seinen Händen.

„Inklusion ist kein Schönwetterkonzept“

Interview mit Jürgen Dusel zum Stand der Inklusion

ZB im Gespräch mit ...

Jürgen Dusel
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Der 56-Jährige leitete von 2002 bis 2009 das Inklusionsamt in Brandenburg und war zu dieser Zeit auch Mitglied im Medienbeirat dieses Magazins. Er war zunächst Beauftragter für die Belange der Menschen mit Behinderungen der brandenburgischen Landesregierung, bis er 2018 auf die Bundesebene wechselte.

Jürgen Dusel sitzt am Tisch und lächelt  in die Kamera. Er trägt ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Anzug.
Unscharfes Bild von einer Person im Rollstuhl.
weißer Hintergrund

Kann man sagen, dass Menschen mit Behinderungen in vielen Belangen durch die Corona-Pandemie besonders betroffen sind?

In Deutschland gibt es circa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen – knapp 8 Millionen davon sind schwerbehinderte Menschen. Diese Gruppen sind sehr heterogen. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Betroffenheit durch die Coronapandemie nicht leicht zu beantworten. Was klar ist: Innerhalb der Gruppe der Schwerbehinderten gibt es Menschen, die sich bereits seit über einem Jahr isolieren müssen. Diese Menschen haben große Sorgen, sich zu infizieren und an COVID-19 zu sterben – kritisch ist für diese Gruppe jetzt der lange Verlauf der Pandemie.

Welche großen Themen sehen Sie zurzeit in der Corona-Krise? Worauf muss geachtet werden?

Wir stellen fest, dass sich bestehende Problemlagen in der Pandemie noch einmal verschärft haben. Das betrifft die Teilhabe am Arbeitsleben, die gesundheitliche Versorgung der Menschen mit Beeinträchtigungen und die Barrierefreiheit insgesamt. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir bei allen neuen Gesetzen, die wir jetzt in der Pandemie auf den Weg bringen, darauf achten, dass sie inklusiv sind. Ob das jetzt ein Konjunkturprogramm, ein Krisenbewältigungsprogramm, die Unterstützung von Inklusionsunternehmen oder die Informationsvermittlung per Gebärdensprache ist – alle Ideen und Programme sollten auch für Menschen mit Behinderungen zukunftsfähig sein. Das hat dann auch positive Auswirkungen auf die Zeit nach der Pandemie.

Haben Sie Sorge, dass vieles, was Sie und Ihre Mitarbeiter in den letzten Jahren erreicht haben, durch die Pandemie zunichtegemacht wird? Und wie begegnen Sie dem?

Oh ja, ich habe schon Sorge, dass das, was wir bereits erreicht haben – auch was die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention betrifft –, geopfert wird. Aktuell ist die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Beeinträchtigungen gestiegen und derzeit so hoch wie seit fünf Jahren nicht mehr. Wir wissen auch, dass diese Gruppe schwerer wieder einen Job findet als nichtbehinderte Menschen. Deshalb müssen wir jetzt schon Maßnahmen ergreifen, damit die Einstellung von behinderten Menschen vereinfacht wird, wenn sich die Konjunktur wieder erholt.

In Deutschland gibt es insgesamt 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen – 8 Millionen davon sind schwerbehinderte Menschen.
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Drei Personen sitzen in einem Büro.
Drei Personen sitzen an einem Besprechungstisch. Eine Frau sitzt im Rollstuhl.

Was meinen Sie damit konkret? Haben Sie Maßnahmen im Blick?

Zunächst sollten wir uns einfach an die Regeln halten, die wir uns gegeben haben. Ein Viertel aller Unternehmen beschäftigt trotz einer Beschäftigungspflicht keinen einzigen Menschen mit Behinderung. Was würde passieren, wenn 25 Prozent aller Autofahrer einfach sagen, für mich gilt die Straßenverkehrsordnung nicht? Das ist völlig inakzeptabel – Nullakzeptanz für Nullbeschäftigung! Deshalb bin ich für eine Verdoppelung der Ausgleichsabgabe für diese Unternehmen. Arbeitsminister Hubertus Heil hat die Erhöhung der Ausgleichsabgabe noch im Dezember 2020 als Teil seiner Forderung formuliert. Allerdings scheint die Forderung derzeit leider keine Mehrheit zu finden.

Dann müssen die Bewilligungsverfahren, zum Beispiel für Lohnkostenzuschüsse und Arbeitsplatzausstattungen bei einer Einstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen, vereinfacht und beschleunigt werden. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen sollen es zukünftig einfacher haben, sich in dem Wirrwarr von Beschäftigungshilfen und unterschiedlich zuständigen Leistungsträgern zurechtzufinden. Deshalb trete ich dafür ein, dass Arbeitgeber zukünftig nur noch einen Ansprechpartner für alle ihre Fragen rund um die Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen haben. Andernfalls könnten vor allem kleinere Unternehmen schnell überfordert sein. Das muss sich ändern.

Wer soll denn diese Ansprechperson sein?

Ich plädiere dafür, dass diese zentrale Ansprechperson für Unternehmen zukünftig aus den Integrationsämtern kommt und dass sie dann auch verbindliche Zusagen machen und Entscheidungen treffen darf. Das kann es kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht immer das Personal abstellen können für solche Aufgaben, leichter machen, auch Menschen mit Behinderungen einzustellen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist getan: Im parlamentarischen Verfahren zum Teilhabestärkungsgesetz sind jetzt auch Ansprechstellen vorgesehen, allerdings trägerunabhängig, und sie sollen nur Beratungs- und Lotsenfunktion haben.

Aktuell unterstützt der Staat mit Milliardenprogrammen Unternehmen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Inklusion der Wirtschaft unterordnen muss. Wie sehen Sie das?

Wir müssen anders argumentieren. Der Deutsche Bundestag hat viel steuerfinanziertes Geld in die Hand genommen – übrigens auch Steuern, die von Menschen mit Behinderungen erbracht wurden –, um Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Corona-Krise zu unterstützen. Und das ist vollkommen richtig so. Das ist ein solidarischer Akt der Gesellschaft. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn schon der Steuerzahler Unternehmen unterstützt, dann erwarte ich, dass auch Firmen etwas von dieser Solidarität zurückgeben und Menschen mit Behinderungen beschäftigen.

Gibt es auch positive Entwicklungen in der Corona-Krise?

Die gibt es: Nach 45 Jahren konnten wir erreichen, dass die Pauschbeträge in der Einkommenssteuer für Behinderte am 1. Januar 2021 verdoppelt wurden. Dem ging ein intensiver Austausch zwischen dem Finanzminister und mir voraus. Das zeigt, dass man auch in der Pandemie inklusive Gesetze voranbringen kann. Inklusion ist also nicht nur ein Schönwetterkonzept, das man macht, wenn man sonst keine Sorgen hat, sondern es zeigt, dass man auch in der Krise Gesetze für Menschen mit Behinderungen verbessern kann.

Ich plädiere dafür, dass diese zentrale Ansprechperson für Unternehmen zukünftig aus den Integrationsämtern kommt ...
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Frau im Rollstuhl sitzt vor dem dem Schreibtisch und schaut auf einen Computerbildschirm.
Frau sitzt an einem Schreibtisch und trägt Headset. Sie schaut auf einen Computerbildschirm.

Die Politik hat in der Corona-Pandemie am 1. Januar 2021 den sogenannten Corona-Teilhabe-Fonds auf den Weg gebracht. Einrichtungen der Behindertenhilfe, Inklusionsbetriebe, Sozialkaufhäuser und gemeinnützige Sozialunternehmen können Zuschüsse aus dem Fonds beantragen. Die Antragsfrist ist aufgrund der andauernden pandemischen Lage bis zum 31. Mai 2021 verlängert worden. Wie unterstützt der Fonds die Inklusion in der Krise?

Dies ist ein sehr wichtiges und notwendiges Instrument, weil vor allem Inklusionsunternehmen am Anfang der Corona-Krise immense Schwierigkeiten hatten, Kredite oder Zuschüsse zu erhalten, denn sie waren zunächst von allen Wirtschaftshilfen ausgeschlossen. Die mehr als 900 Inklusionsunternehmen in Deutschland haben eine wichtige Aufgabe – sie gewährleisten die Teilhabe für Menschen mit Behinderungen am ersten Arbeitsmarkt. Die dürfen jetzt nicht in Konkurs gehen. Ich hoffe wirklich sehr, dass sie einigermaßen gut durch die Corona-Krise kommen.

Wie schätzen Sie die Arbeit der Integrationsämter in der Corona-Krise ein?

Ich habe ja selber von 2002 bis 2009 das Integrationsamt des Landes Brandenburg geleitet. Deshalb weiß ich, dass sehr viele Beschäftigte Überzeugungstäter sind und eine hohe intrinsische Motivation haben, die sich vor allem durch ehrliche Freude an einer Aufgabe auszeichnet. Ich wünsche mir sehr, dass die Integrationsämter personell besser ausgestattet werden und einen höheren Stellenwert erhalten. Sie stehen für einen sehr wichtigen Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe, nämlich die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben.

Und wie steht es um die digitale Teilhabe? Viele Konzepte wurden aus dem Boden gestampft, ohne die Barrierefreiheit zu berücksichtigen. Was muss da geschehen?

Es muss eigentlich im ureigensten Interesse der Unternehmen liegen, alle Webseiten und Kommunikationstools barrierefrei zu gestalten, denn auch die Barrierefreiheit zeigt, dass sich Firmen modern und zukunftsfähig aufstellen. Arbeitgeber sind jetzt in der Corona-Krise gut beraten, ihre Schwerbehindertenvertretung zu konsultieren. Das betrifft vor allem Fragen zur Barrierefreiheit der Computersysteme, die zur Kommunikation im Homeoffice eingesetzt werden. Denn was nützt ein modernes Videokonferenz-Tool, das zum Beispiel nicht von Sehbehinderten benutzt werden kann? Barrierefreiheit in der IT darf nicht weiter als „nice to have“ behandelt werden, sondern ist ein Qualitätsmerkmal eines modernen Unternehmens, das für Innovation steht. Und das wird zukünftig auch ein Merkmal einer Firma sein im Kampf um junge Talente – egal ob sie mit Beeinträchtigungen leben oder nicht. Ein anderes Beispiel zur Barrierefreiheit: Es wird in den kommenden Jahren viel Geld in die Infrastruktur und den Netzausbau der Deutschen Bahn investiert. Ich habe jetzt mit Finanzminister Olaf Scholz abgesprochen, dass bei diesen Milliardeninvestitionen immer auch an die Barrierefreiheit gedacht wird. Und dabei geht es nicht nur um die funktionierende Rampe – Barrierefreiheit hat für mich eine tiefe soziale Dimension. Sie ist vielmehr Voraussetzung, dass Menschen zusammenleben können, und damit ein qualitatives Zeichen einer modernen Gesellschaft.

Gibt es aktuell ein Thema, das Sie im Zusammenhang mit Inklusion beschäftigt?

Auch wenn es sich sehr staatstragend anhört, mein Motto lautet: Demokratie braucht Inklusion. Das heißt für mich, dass ich mir ohne Inklusion kein demokratisches Land vorstellen kann. Wenn man diesen Punkt weiterdenkt, bedeutet unsere gemeinsame Arbeit für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auch Demokratiearbeit. Es gilt ein einfacher Satz, ob es nun um die Teilhabe am Arbeitsleben, am gesellschaftlichen Leben, am kulturellen Leben oder am Sport geht: „Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und sie haben genau die gleichen Rechte, wie alle anderen Menschen auch.“ Jetzt ist es Aufgabe des Staates, diese Rechte nicht nur zu versprechen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie umgesetzt werden. Wenn das nicht funktioniert, kann es sein, dass Menschen sich verlassen fühlen von ihrem Sozialstaat. Und das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie den politischen Kräften hinterherlaufen, die scheinbar einfache Antworten auf schwierige Fragen geben. Aus diesem Grund muss uns klar werden, dass Inklusion und Demokratie eng miteinander verflochten sind. Inklusion hat deshalb auch nichts mit Fürsorge, Humanität oder Caritas zu tun – nein, es geht bei der Inklusion um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten, die jeder Mensch hat.

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