Aus einer Jeanshosentasche ragt ein Smartphone heraus, auf dem man eine Ausgabe des ZB Digitalmagazins sehen kann.

Assistenz für die Hosentasche

Digitale Assistenzsysteme sind mittlerweile in verschiedenen Projekten entwickelt worden. Allerdings liegen nicht ausreichend Erfahrungen zum praktischen Einsatz vor. Das Projekt „OmniAssist“ vom LWL-Inklusionsamt Arbeit soll diese Erfahrungsbasis erweitern. Das vom Startup delta3 entwickelte System ist eine Möglichkeit der digitalen Assistenz. delta3 Mitbegründer- und erfinder Alex Kuhn erklärt im Interiew mit ZB, wie die Teilhabe aus der Hosentasche aussieht.

„Es ist wirklich schön zu sehen, wie positiv das System und sein Feedback viele Mitarbeitende beeinflusst.“
Alexander Kuhn

Portraitfoto von Alex Kuhn.

Hallo Herr Kuhn, warum sind digitale Assistenzsysteme hilfreich, wenn es um Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geht?

Die Grundüberlegung und auch unsere langjährige Erfahrung ist diese: Wenn Menschen mit Behinderungen benötigte Informationen zur Verfügung haben, dann können sie auch in komplexeren Prozessen eigenständig agieren. Was bedeutet das? Durch ein digitales Assistenzsystem können wir Menschen, die sonst vielleicht nur zwei oder drei Arbeitsschritte eigenständig erledigen können, anleiten, einen komplexeren Prozess zu beherrschen. Diese Beobachtung ist unabhängig vom Einsatzbereich – Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Inklusionsbetriebe, Inklusionsabteilungen oder regulärer Arbeitsplatz. Die Selbstbestimmung der Beteiligten steigt, die Produktivität steigt und, das ist auch nicht zu unterschätzen, betreuende Personen werden entlastet.

Das System, das wir entwickelt haben, ist so aufgebaut, dass es für jeden Arbeitsplatz und den Bedarf des jeweils dort Arbeitenden angepasst werden kann – und zwar schnell und einfach. Ausgangsüberlegung ist die allgegenwärtige Verfügbarkeit von mobilen Endgeräten, also erfolgt die Informationsbereitstellung erstmal über diese. Wir sprechen da von der Assistenz für die Hosentasche. Die Geräte können aber auch gekoppelt werden mit Maschinen und Geräten am Arbeitsplatz.

Haben Sie ein Beispiel?

Ja, natürlich. Wie kann ich mir das vorstellen? Ich komme zum Beispiel an einen Arbeitsplatz und muss eine manuelle Montage durchführen. Oberhalb des Arbeitsplatzes installiere ich eine Kamera und einen Projektor und diese können dann mit dem Smartphone interagieren, weil meine Hände erkannt werden, welche Griffe ich mache und ob ich sie richtig mache. Das Smartphone gibt mir Anweisungen, visuell oder per Sprachausgabe und auch Rückmeldung, wenn etwas beispielsweise in der falschen Reihenfolge erfolgt ist.

Und wenn ich dann nachmittags wieder nach Hause fahre und nicht mehr ganz genau weiß, welches Ticket ich eigentlich ziehen muss oder welche S-Bahn ich eigentlich nehmen muss, dann kann ich hier auch auf den kleinen Assistenten in meiner Hosentasche zurückgreifen.

Also geht es nicht nur um Assistenz am Arbeitsplatz? Die Systeme könnten viel globaler angewandt werden?

Absolut! Dieses System hat im Prinzip einen sehr generischen Charakter. Ein Beispiel: Wir kennen das ja selbst aus dem privaten Umfeld, dass man nach sechs Monaten Winterpause den Rasenmäher wieder in Betrieb nehmen will. Und dann muss man erstmal gucken: Sind die Kerzen okay? Was sagt der Ölstand etc. Das sind Tätigkeiten, die man nicht routiniert erledigt. Und das ist ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen mit oder ohne Einschränkungen handelt – mobile Assistenzsysteme können in sehr vielen Lebenssituationen unterstützen.

Die Systeme geben teilweise auch Feedback, zum Beispiel in Form von Lob. Was hat das denn für einen Einfluss auf die Person, die mit dem System arbeitet?

Ja, durch diesen sogenannten Gamification-Charakter, der durch die Rückkopplung entsteht, kann man sehr positive Effekte erzielen. Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die vorher nur in der Lage waren, vier Arbeitsschritte durchzuführen, können teilweise nun eine komplette Fertigung von mehr als zehn Schritten eigenständig erledigen. Und diese Leute erfahren dann durch die positive Rückmeldung des Systems auch eine Bestärkung – das hat großen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl. Es ist wirklich schön zu sehen, wie positiv das viele Mitarbeitende beeinflusst – sie blühen richtig auf.

Um dann mal auf das Projekt OmniAssist zu sprechen zu kommen – wie ist denn der Projektverlauf weiterhin geplant? Gibt es schon Zwischenergebnisse?

Das Projekt OmniAssist vom LWL-Inklusionsamt Arbeit ist als mehrstufiger Prozess angelegt. Nach der Bewerbungsphase haben wir jetzt sieben Unternehmen identifiziert und dort Unternehmensbesuche durchgeführt, bei denen wir gemeinsam mit den Organisationen geschaut haben: Wo werden Menschen mit Behinderungen eingesetzt, wie sind die täglichen Arbeitsprozesse gestaltet? Jetzt, im nächsten Schritt, wollen wir in Form einer Machbarkeitsstudie anhand konkreter Evaluierungskriterien tatsächlich nachweisen, dass diese Menschen durch digitale Assistenzsysteme sehr gut unterstützt werden und dass es einen sehr konkreten Mehrwert gibt. Man sieht an der Vielfalt der Unternehmen, die sich beteiligen, auch sehr gut, dass es unglaublich viele spannende Anwendungsszenarien gibt. Das ist kein Nischen-Produkt, sondern wirklich etwas Generisches, das vom Garten-Landschaftsbau bis zum Elektroindustrie-Unternehmen ganz unterschiedliche, facettenreiche Anwendungsfelder bietet. Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie und aktuell auch sehr positiv gestimmt, weil wir schon aufgrund unserer Erfahrung sagen können: „Ja, da sehen wir auch ein großes Potenzial für verschiedenste Unterstützung!“

Unternehmen, die sonst vielleicht Schwierigkeiten haben, geeignete Angestellte zu finden, können so also Menschen beschäftigen, die sonst nicht bei ihnen arbeiten könnten. Gibt es auch andere Vorteile?

Ja, auf jeden Fall. Digitale Assistenzsysteme sind natürlich in erster Linie ein unglaublich großer Hebel für mehr Inklusion. Für Unternehmen ist das aber auch ein spannendes Thema, weil diese digitalen Assistenzsysteme auch dafür genutzt werden können, Organisationswissen zu konservieren. Aber auch im Zuge von Einarbeitungsprozessen, bei Sprachbarrieren oder bei Fort- und Weiterbildungsprozessen kann ein Assistenzsystem genutzt werden.

Als absoluter Laie oder Laiin gefragt: Wie muss ich mir die Funktionsweise vorstellen?

Das Ganze funktioniert über eine App, die vom Unternehmen je nach Arbeitsplatz dieser Mitarbeitenden bestückt werden kann. Der Aufbau ist, wie bereits erwähnt, modular angelegt und wird mit dem Organisationswissen oder Prozesswissen rund um den jeweiligen Arbeitsplatz befüllt. Dazu brauchen Sie gar kein IT-Knowhow. Und dann kann von jedem Unternehmen individuell geschaut werden: Handelt es sich zum Beispiel um einen Mitarbeiter mit Leseschwäche? Dann kann ich Icons einsetzen. Geht es um eine Mitarbeiterin, die kognitiv eingeschränkt ist? Dann kann ich das Ganze in viele extrakleine Schritte herunterbrechen. Und so weiter, dem sind eigentlich kaum Grenzen gesetzt.

Was erhoffen Sie sich denn von dem Projekt?

Wir wollen in der jetzt gerade laufenden Machbarkeitsstudie vor allem zeigen, dass digitale Assistenzsysteme einen großen Mehrwert für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen haben. Durch diese Systeme wird das Spektrum der Hilfsmittel und der technischen Arbeitsplatzausstattung erweitert. Bisher war hier der Fokus vor allem auf der Kompensation von körperlichen Einschränkungen durch technische Mittel. Nun können wir zeigen, dass wir mit softwarebasierten digitalen Assistenzsystemen die Arbeitsplatzausstattung und somit die Arbeitssituation auch für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung erheblich verbessern können.

Mehr Infos und ein Film

Wenn Sie die App in der Anwendung sehen möchten, hat der LWL einen Film für Sie. Auf der Homepage des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe finden Sie einen Blogbeitrag inklusive Film.

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