Detlev Krieger im Gespräch.

Sprechen über Depressionen

Depressionen sind in der Gesellschaft zwar weit verbreitet, aber immer noch tabuisiert. Feuerungsmaurer Detlev Krieger ging offen mit seiner Erkrankung um und arbeitet dank der Unterstützung des Integrationsfachdienstes Gelsenkirchen heute weiter in seinem alten Job.

Die Offenheit, mit der er darüber spricht, hilft auch anderen.

Am Ende ging bei Detlev Krieger gar nichts mehr. Der heute 60‑Jährige hatte stark abgenommen – von 85 blieben 68 Kilo – und er schlief nur noch schlecht. Schon seit Längerem konnte der Feuerungsmaurer nicht mehr Autofahren, das hatte seine Frau übernommen. Sie war es auch, die dann sagte, dass es so nicht mehr weitergeht. Krieger arbeitet bei der Pilkington Deutschland AG, die zur NSG Group gehört, einem international tätigen Unternehmen in der Glaserzeugung. Im Werk in Gladbeck stellen 500 Mitarbeitende Glasprodukte wie Scheiben hauptsächlich für die Automobil- und die Bauindustrie her. Der gelernte Maurer arbeitet seit mehr als 33 Jahre im Unternehmen und hat sich im Lauf der Jahre zum Chef des Maurerteams hochgearbeitet. Eine anstrengende und verantwortungsvolle Aufgabe, da er für die Pflege und Wartung der Öfen, in denen das Glas geschmolzen wird, zuständig ist. „Wenn der Ofen nicht läuft, läuft wenig im Betrieb“, sagt Krieger. Zu seiner Arbeit gehören zudem die Materialbestellung und die Verteilung der Arbeit an die sechs Leute in seinem Team. Zusätzlich ist Krieger die Schnittstelle zur Betriebsleitung.

„Detlev forderte immer 150 Prozent von sich und anderen.“
Die Veränderungen bei Krieger fielen seinen Arbeitskollegen bereits 2017 auf. „Das war ein schleichender Prozess“, berichtet Patrick Wiesner, Betriebsrat bei Pilkington und Ansprechpartner für Kollegen mit psychischen Problemen. „Ich kenne Detlev schon sehr lange. Wir haben beide im Produktionsbereich am Ofen gearbeitet – ich als Produktionsmitarbeiter und Mechaniker, er als Vorarbeiter“, erzählt Wiesner. Krieger sei damals sehr reizbar gewesen und fuhr schnell aus der Haut. „Detlev war schon immer jemand, der 150 Prozent von sich und seinen Mitarbeitenden gefordert hat“, sagt Wiesner. Aber irgendwann habe man gemerkt, dass sich was verändert. Er wurde härter zu sich und auch zu allen anderen. Überfordert sei Krieger nicht gewesen – seinen Job verstand er gut. Aber man habe ihm schon durch den gebückten Gang die Last auf seinen Schultern angesehen. Auch die Kollegen im Team berichteten ihm von ähnlichen Beobachtungen, sagt der Betriebsrat. Krieger selbst bemerkte in dieser Zeit zunächst körperliche Veränderungen. „Ich habe in drei Monaten 17 kg abgenommen, doch die Ärzte konnten bei mir nichts konkretes finden“, erzählt er. Auch wenn die Arbeit stressiger wurde, war sein Anspruch, immer gut und schnell zu arbeiten. „Ich bin ein Perfektionist – körperlich baute ich bei der Arbeit aber immer mehr ab“, berichtet der Feuerungsmaurer.

Psychologen hatten keine Zeit.
In der Folgezeit zeigten sich bei Krieger ernsthafte Konzentrationsprobleme und nachdem seine Frau Fahrfehler beobachtet hatte, habe er sich das Autofahren nicht mehr zugetraut. Sein Hausarzt habe ihn dann krankgeschrieben und an einem Psychologen verwiesen. Hilfe fand er dort nicht. „Egal wo ich angerufen habe, hieß es, dass zurzeit keine Termine frei seien. Ich hätte mich auf eine Warteliste setzen lassen können und dann vielleicht in neun oder zwölf Monaten einen Termin bekommen“. Das war der Zeitpunkt, an dem Patrick Wiesner in Absprache mit Krieger den Kontakt zum Integrationsfachdienst, kurz IFD Gelsenkirchen aufnahm. Der IFD in der Schalke-Stadt ist für Gelsenkirchen, Bottrop und Gladbeck zuständig. Auftraggeber ist das LWL‑Inklusionsamt Arbeit mit Sitz in Münster. Seit 2009 betreut Sabine Kremer vom IFD die Pilkington Deutschland AG. Mit dem Betriebsrat und der Betriebsleitung gibt es eine enge und gute Zusammenarbeit. Insgesamt habe der IFD bislang mehr als 30 Beschäftigte erfolgreich beraten. Für alle Mitarbeitenden haben sich im Zusammenspiel mit den Beteiligten jeweils gute Lösungen finden lassen. Krankheits- oder behinderungsbedingte Kündigungen konnten vermieden werden, erzählt Kremer.

„Er zitterte und kämpfte mit den Tränen.“
Die studierte Sozialarbeiterin sieht sich auch in einer Lotsenfunktion. Häufig spielen neben den beruflichen Belastungen auch private Probleme eine Rolle. Das können familiäre Herausforderungen, wie die Betreuung von Angehörigen, Suchterkrankungen oder Schulden sein. Betriebsrat Wiesner habe einen sehr guten Draht zur Belegschaft – der rufe sie regelmäßig an, wenn ihm etwas auffällt. Im Fall Detlev Krieger war der IFD-Mitarbeiterin ziemlich schnell klar, dass die Arbeit und die Arbeitsverdichtung für seine Erkrankung verantwortlich sind. „Er schien völlig am Ende seiner Kräfte zu sein, in dem Gespräch zitterte er und kämpfte mit den Tränen“, so Kremers Eindruck vom ersten Gespräch mit dem Feuerungsmaurer. Sie habe ihm geraten, sich langfristig krankschreiben zu lassen und eine Reha zu beantragen.

Heilung psychischer Erkrankungen dauert.
Die beantragte Rehabilitationsmaßnahme wurde von der Rentenversicherung zunächst abgelehnt, doch der Widerspruch war erfolgreich und nur vier Monate nach dem ersten Kontakt konnte Krieger die Reha antreten. Die Gespräche mit den Psychologen und den Mitpatienten taten ihm gut. Er fühlte sich verstanden. Die Diagnose nach sieben Wochen Reha: Krieger hat eine mittelschwere Depression. Die Krankheit des Vorarbeiters ist kein Einzelfall: Trotz rückläufiger Krankenstände in den vergangenen Jahren wächst der Anteil psychischer Erkrankungen bei den Krankschreibungen. Er kletterte in den vergangenen 40 Jahren von zwei Prozent auf 17,5 Prozent, sagt der BKK-Gesundheitsreport 2021. Die durch psychische Erkrankungen ausgelösten Krankheitstage haben sich in diesem Zeitraum verfünffacht. Sie sind heute die zweithäufigste Diagnosegruppe nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen bei den Krankschreibungen.

Krankheitskosten in Milliardenhöhe.
Besondere Bedeutung erhalten psychische Erkrankungen zudem durch die Krankheitsdauer: Die durchschnittliche Dauer psychisch bedingter Krankheitsfälle ist mit 43,4 Tagen fast dreimal so hoch wie bei anderen Erkrankungen mit 15,6 Tagen im Durchschnitt, so der BKK-Gesundheitsreport. Die Folge für Unternehmen und Volkswirtschaft sind Ausgaben in Milliardenhöhe: Im Jahr 2020 betrugen allein die Krankheitskosten für psychische Erkrankungen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 56,4 Milliarden Euro. Die deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen spiegelt sich auch in den zunehmenden Produktionsausfallkosten wider: Sie lagen 2020 bei 14,6 Milliarden Euro (BAuA 2020).

Portrait von Sabine Krämer.

„Es gibt viele Menschen, die brauchen länger für den Prozess, die Krankheit zu akzeptieren und in ihr Selbstbild zu integrieren.“

Sabine Kremer, IFD Gelsenkirchen
Michael Kolpak im Portrait.

„Die Offenheit, mit der er darüber spricht, ist einzigartig und hilft auch anderen.“

Michael Kolpak, Personalleiter bei Pilkington Deutschland

„Die Offenheit hilft auch anderen.“
Diese Zahlen kennt auch Michael Kolpak, Personalleiter der Pilkington Deutschland AG am Standort Gladbeck. „Wir haben auf jeden Fall mehr Fälle mit psychischen Erkrankungen, als noch vor vier Jahren – als ich hier als Personalchef angefangen habe“, sagt Kolpak, der bereits seit 39 Jahren im Unternehmen ist. Aus diesem Grund entwickele das Unternehmen aktuell Gefährdungsbeurteilungen für psychische Belastungen. Die Arbeitsumgebung im Produktionsbereich sei geprägt durch Lärm, Hitze und Staub. In den meisten Bereichen werde im Vier-Schichtbetrieb gearbeitet. „Das ist für sich genommen schon eine hohe Belastung – unsere Öfen laufen schließlich an 365 Tage im Jahr“, erzählt der Personalleiter. Detlev Kriegers Umgang mit seiner Erkrankung nennt Kolpak vorbildlich. „Die Offenheit, mit der er darüber spricht, ist einzigartig und hilft auch anderen“, ist Kolpak überzeugt. Der Fall zeige, dass man so früh wie möglich reden müsse. Allerdings dauere es leider immer noch zu lange bis die ersten belastbaren Diagnosen gestellt werden, merkt der Personalchef an.

Wiedereingliederung dauerte drei Monate.
Nach der Reha fühlte sich Vorarbeiter Krieger wieder gut und wollte umgehend wieder arbeiten – Kremer musste ihn bremsen. Ihr Rat damals: Er solle sich erst einmal in seinem Privatleben zu Hause eingewöhnen und es langsam angehen zu lassen. Außerdem gab es ein Gespräch mit Personalleiter Kolpak zur stufenweisen Wiedereingliederung. Alle waren sich einig, dass sich auch langfristig etwas an Kriegers Arbeitsorganisation ändern müsse. Gemeinsam wurde vereinbart, dass sich der Vorarbeiter künftig mehr auf die organisatorischen Arbeiten konzentrieren und nicht mehr so häufig direkt am Ofen arbeiten solle. Die Wiedereingliederung dauerte insgesamt drei Monate. In dieser Zeit arbeitete Krieger immer nur einige Stunden im Betrieb. Diese Phase war wichtig, da der Vorarbeiter seine neu erlernten Verhaltensweisen – unter anderem sich nicht um alle Kleinigkeiten kümmern und Verantwortung auch mal zu delegieren – trainieren wollte. Aber auch seine Vorgesetzten und sein Team mussten lernen, mit den Veränderungen zurecht zu kommen.

Verleugnung der psychischen Erkrankung ist ein Problem.
Parallel zur Wiedereingliederung nahm Krieger an einem Stressbewältigungstraining für psychisch kranke Menschen des IFD Gelsenkirchen teil. An 14 Terminen, einmal in der Woche, traf sich eine kleine Gruppe von sechs Leuten in den Räumen des IFD in Gelsenkirchen. Unter anderem erläuterte Moderatorin Kremer den Teilnehmern die Ursachen von Stress. Gleichzeitig wurden Übungen zur Entspannung wie etwa die progressive Muskelentspannung trainiert. „Wichtig ist mir vor allem der Austausch der Gleichgesinnten untereinander, auch um sie aus ihrer Isolation zu führen“, sagt die Sozialarbeiterin. Das große Problem bei psychisch kranken Menschen sei immer die Verleugnung der Krankheit, erzählt Kremer aus ihrem Berufsalltag. Detlev Krieger sei auch hier vorbildlich gewesen. „Es gibt viele Menschen, die brauchen länger für den Prozess, die Krankheit zu akzeptieren und in ihr Selbstbild zu integrieren“. Seit dem Frühjahr 2019 – nach mehr als einem Jahr Pause – arbeitet der Vorarbeiter wieder regulär im Betrieb. Kurze Zeit später wurde eine Großfeuerungsanlage im Unternehmen über Monate stillgelegt, um einen Teilneubau umsetzen zu können. Hier war Krieger mit seiner Expertise als verantwortlicher Feuerungsmaurer gefordert. Doch auch dieser Herausforderung war er wieder gewachsen. „Heute geht es mir wieder gut“, sagt Krieger, „aber ich weiß auch, dass ich aufpassen muss, nicht wieder in meine alten Verhaltensmuster zurückzufallen“.

Mehr Infos

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat ein umfangreiches Hilfsangebot, wenn Sie unter Depressionen leiden oder dies vermuten.

Wenn Sie überlegen, ob Sie Ihre psychische Beeinträchtigung offenbaren sollen, hilft Ihnen ein Artikel aus der vorvergangenen ZB weiter: Chronisch erkrankt, aber unsichtbar.

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