"Wir sehen großes Potenzial"


Die Gründung einer Inklusionsabteilung erleichtert es Unternehmen, Menschen mit Behinderung einzustellen. Davon profitieren alle Beteiligten, wie das mittelständische Unternehmen Großewinkelmann im ostwestfälischen Rietberg zeigt.
Wenn Stefan Wagner morgens um halb sieben die Fertigungshalle betritt, hat er schon eine ordentliche Radtour hinter sich: 15 Kilometer liegen zwischen seinem Wohnort Bielefeld und seinem Arbeitsplatz, der Großewinkelmann GmbH in Rietberg. Doch der gelernte Zerspanungsmechaniker nimmt die tägliche Fahrt gern in Kauf, denn er schätzt nicht nur die Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und Kollegen. Bei dem 41-Jährigen wurde ein cerebrales Anfallsleiden (Epilepsie) diagnostiziert. Das bedeutet, dass er stets in Sichtweite eines eingewiesenen Kollegen sein muss, der im Notfall eingreifen kann. In der freien Wirtschaft fand er daher trotz Ausbildung keinen Job. Bei Großewinkelmann hat er die Chance, als einer von elf Beschäftigten mit Behinderung in einer Inklusionsabteilung zu arbeiten. Dabei handelt es sich anders als bei einem kompletten Inklusionsbetrieb um eine inklusive Abteilung, in der mindestens drei Angestellte eine Beeinträchtigung haben müssen: eine interessante Alternative für Unternehmen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die Menschen mit Behinderung eine Perspektive bieten möchten. Dafür erhalten sie Förderungen vom regionalen Inklusions- oder Integrationsamt, in diesem Fall vom LWL-Inklusionsamt Arbeit.
Spezialanbieter mit Tradition
Insgesamt rund 180 Beschäftigte fertigen bei Großewinkelmann qualitativ hochwertige Produkte für die Bereiche Stall- und Weidetechnik sowie Zaun- und Torsysteme. Schon die Eltern der Geschäftsführer Ralf und Frank Hesse pflegten Kontakt zur wertkreis Gütersloh gGmbH, einem sozialen Dienstleistungsunternehmen im Bereich Inklusion, zu dem unter anderem Werkstätten für Menschen mit Behinderung gehören. Aufgrund der immer umfangreicheren Zusammenarbeit erweiterten die Hesses 2008 ihre Werkshallen und richteten für die Angestellten der wertkreis-Werkstatt auf dem gewachsenen Firmengelände ausgelagerte Arbeitsplätze ein.
„Das Lasern habe ich hier neu gelernt, das finde ich sehr interessant.“

Niedrige formale Hürden
Als ein benachbarter Inklusionsbetrieb einzelne Werkstattmitarbeitende abwarb, kontaktierten die Firmeninhaber das LWL-Inklusionsamt Arbeit des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), und dann ging alles ganz schnell, wie sich Ralf Hesse erinnert: „Die formalen Hürden, eine Inklusionsabteilung zu gründen, waren so niedrig, dass wir gesagt haben, das machen wir!“ Zunächst waren zehn Fachkräfte mit Behinderung fortan bei Großewinkelmann fest angestellt. Die Zusammenarbeit mit dem LWL bezeichnet Hesse als „sehr klar und unkompliziert“. Außer der regelmäßigen Förderung würden sie auch proaktiv über Verlängerungen oder neue Fördertöpfe informiert, etwa Programme für Personen, die aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung kommen. „Natürlich bekommt man nichts geschenkt, sondern muss sich auch ein Stück weit auf die Thematik einlassen“, sagt der Geschäftsführer. „Aber wir finden immer eine Lösung und alle Seiten profitieren davon.“
Inklusionsamt berät und unterstützt
Die Fördermöglichkeiten durch das LWL-Inklusionsamt Arbeit wie im Falle Großewinkelmann sind vielfältig: Sie umfassen anteilige Lohnkostenzuschüsse und bis zu 20.000 Euro Aufbau- und Investitionskostenförderung, wenn ein inklusiver Arbeitsplatz geschaffen wird (die Förderhöhen können bei einigen Inklusions- und Integrationsämtern bundesweit abweichen, weitere Infos siehe Kasten). „Das können neue Maschinen sein, ein Fahrzeug oder andere Betriebsausstattung“, wie Isabell Hörnschemeyer vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) erläutert.
„Natürlich muss man sich mit der Thematik befassen, aber die Hürden sind gering.“
Unter den potenziellen Arbeitgebern, die ihre Konzepte beim LWL einreichen und einen neuen kompletten Inklusionsbetrieb oder eine Inklusionsabteilung gründen möchten, befinden sich sowohl Klein- als auch mittelständische Unternehmen aus den verschiedensten Branchen. Sind Hörnschemeyer und ihre Kolleginnen und Kollegen von einem Konzept überzeugt, erfolgt eine individuelle und kontinuierliche Beratung – von praktischen bis zu betriebswirtschaftlichen Fragen. Dabei unterstützen auch der Technische Beratungsdienst und die Handwerkskammer Münster mit ihrer Betriebswirtschaftlichen Beratungsstelle für Inklusionsbetriebe mit gezielten Tipps und Anregungen. Auch weitere Angebote stellt das LWL-Inklusionsamt Arbeit zur Verfügung, z.B. für eine behinderungsbedingte Ausstattung der Arbeitsplätze als auch Unterstützung für die Anleitung und Begleitung. Dies können auch zum Beispiel Dolmetscher bei Sinnesbeeinträchtigungen, Jobcoaches oder psychosoziale Fachkräfte sein.
Auch soziale Betreuung wird gefördert
Bei Großewinkelmann ist es Karin Kirchner, die jeden Donnerstagvormittag für zwei Stunden bei Großewinkelmann im Einsatz ist. Dort kümmert sie sich um die Belange der Beschäftigten mit Behinderung in der Inklusionsabteilung, die bei dem Metallbaubetrieb in den Bereichen Montage, Fertigung und Verpackung eingesetzt sind. Dabei geht es nicht nur um die berufliche Begleitung, sondern um soziale und psychologische Fragen. Im Hauptberuf Bankkauffrau, hat Kirchner durch ihre 14-jährige Tochter mit Autismus und Downsyndrom tiefe Einblicke in den Umgang mit Beeinträchtigungen bekommen. Sie arbeitet nun im Nebenberuf für das IFB – Institut für berufliche Qualifizierung und Entwicklung als psychosoziale Fachkraft.



Als Erstes hält Kirchner Rücksprache mit Personalleiterin Karin Hesker und mit Matthias Vogelsang. Vogelsang ist als Leiter der Endmontage und der CNC-Blechverarbeitung außerdem übergeordnet für die Betreuung der Inklusionsabteilung verantwortlich: Ist etwas Besonderes passiert, liegt etwas an? Dann geht Kirchner „ihre Runde“ durch die Fertigungs- und Montagehallen, wo sie von einigen schon ungeduldig erwartet wird. Zu ihren vielfältigen Aufgaben gehöre auch „Papierkram“, wie sie sagt. So bietet sie den Inklusionsmitarbeitenden Unterstützung bei amtlichem Schriftverkehr an, bei Neueinstellungen verfasst sie die Sozialberichte für den LWL. Darin geht es zum Beispiel um die Tätigkeiten und das Arbeitspensum der Inklusionsmitarbeitenden sowie um die behinderungsbedingten Hintergründe. Ihre Hauptaufgabe bestehe jedoch darin, „ein offenes Ohr zu haben“. Zuzuhören, auch mal vertraulich und privat miteinander zu reden. Gerade bei den Neueinstellungen gebe es manchmal mehr Gesprächsbedarf. Das könne von der Arbeitsbelastung über Gesundheitsprobleme bis zu Missverständnissen mit Vorgesetzten oder Kollegen reichen.
Während Kirchner bei Großewinkelmann die gesamten Abläufe in der Inklusionsabteilung unterstützt, können bei einem zusätzlichen Bedarf auch ganz individuelle Angebote für die einzelnen Beschäftigten mit Behinderung durch Arbeitsassistenzen oder Jobcoaches in Anspruch genommen werden.

Fachliche Tandems erleichtern die Abläufe
Dass Karin Kirchner bei ihrer Donnerstagsrunde im gesamten Betrieb unterwegs ist, liegt daran, dass die Beschäftigten der Inklusionsabteilung nicht auf einen Bereich konzentriert, sondern in verschiedenen Einsatzgebieten tätig sind. Dort arbeiten sie in sogenannten Tandems, sind also fachlich einem Kollegen ohne Behinderung zugeordnet. Das kann insbesondere die Einarbeitung erleichtern. Der Zerspanungsmechaniker Stefan Wagner beispielsweise hatte bei seinem ehemaligen Betrieb, der nach Insolvenz von Großewinkelmann übernommen wurde, noch nicht an der Laseranlage gearbeitet, die er nun bedient. Er fertig zwar das gleiche Produkt wie zuvor, musste aber die Maschinenbedienung erst erlernen. Seine Aufgabe in der Korbleistenfertigung besteht aus dem Begradigen und Zuschneiden von Leisten, dafür startet er unter anderem das betreffende Computerprogramm. „Das habe ich hier neu gelernt und finde es sehr interessant“, berichtet der Familienvater. Darüber hinaus gefielen ihm besonders die abwechslungsreichen Tätigkeiten und „dass jeder Tag anders ist“.


Passgenauer Einsatz ist das Erfolgsrezept
40 Stunden beträgt Wagners Wochenarbeitszeit, bei manchen Kollegen fallen bei großem Auftragsvolumen auch mal bezahlte Überstunden am Wochenende an. Seine Fürsorgepflichten als Arbeitgeber nimmt Großwinkelmann dabei ernst. „Der erhöhte Auftragsdruck darf nicht auf die Psyche schlagen, die Mitarbeiter müssen motiviert bleiben, ihre Leistungsfähigkeit ist nicht an jedem Tag gleich“, erklärt Abteilungsleiter Vogelsang, der die Arbeit mit inklusiven Teams als Bereicherung bezeichnet: „Für mich ist es immer ein Erfolg, wenn Mitarbeiter nach Feierabend zufrieden nach Hause gehen und am nächsten Morgen mit einem Lächeln wiederkommen.“ Dazu gehöre, dass jeder gemäß seiner persönlichen Belastbarkeit eingesetzt werde und man seine Stärken fördere. Denn die Aufgaben und Qualifikationen sind so vielseitig wie die Menschen selbst und richten sich an ihren Fähigkeiten aus. Aber es gibt auch Mitarbeitende mit Beeinträchtigung, die nach einer ersten fachreduzierten Ausbildung dann auch die Gesellenprüfung absolviert haben. Auch muss der Arbeitsplatz nicht immer im Betrieb sein – deutschlandweit auf Montage zu gehen, das ist durchaus laut dem Abteilungsleiter für den ein oder anderen auch möglich, allerdings je nach Eignung und Belastung.
Offen aufeinander zugehen
Großewinkelmann-Geschäftsführer Ralf Hesse ist von dem Konzept so überzeugt, dass er und sein Bruder mittlerweile weitere Betriebe eingegliedert haben, die Menschen mit Behinderung beschäftigen. Die Integration in den verschiedenen Aufgabenfeldern des Betriebes bezeichnet er als gelebte Praxis: „Wenn alle etwas offen sind, dann klappt das. Viele ehemalige Werkstattbeschäftigte haben großes Potenzial.“ Sein Fazit: Trotz anfänglicher Schüchternheit seien alle mit ihren Herausforderungen gewachsen und gute Mitarbeitende geworden, die sie bei Großewinkelmann nicht missen möchten. Sein Tipp an andere Arbeitgeber? „Die Hürden im Kopf überwinden und einfach machen!“
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Inklusionsabteilung: Alternative Lösung für Unternehmen
- Das Konzept der Inklusionsabteilung richtet sich sowohl an privatwirtschaftliche Unternehmen als auch an Arbeitgeber im öffentlichen Dienst.
- Voraussetzung zur Gründung einer Inklusionsabteilung ist, dass mindestens drei Personen mit Behinderung nach den Regelungen des § 215 SGB IX sozialversicherungspflichtig eingestellt und beschäftigt werden. Bei Inklusionsbetrieben muss ihr Beschäftigungsanteil 30 bis 50 Prozent an der Gesamtbelegschaft betragen.
- Förderung beim Aufbau einer Inklusionsabteilung: Betriebswirtschaftliche Beratung und Begleitung, Investitionskostenförderung für den Aufbau, die Erweiterung und die Sicherung von Arbeitsplätzen, Lohnkostenzuschüsse als Nachteilsausgleich für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung.
- So geht’s: Gründungsinteressierte Unternehmen und Arbeitgeber senden ein Grobkonzept der Geschäftsidee an das zuständige Inklusions- oder Integrationsamt.
- Das Amt berät bei der Weiterentwicklung des Konzepts wie Ausstattung, Investitionen, Kostenplan etc.
Ausführliche Informationen zu Beratungs- und Fördermöglichkeiten erhalten Sie bei den Inklusions- und Integrationsämtern der jeweiligen Bundesländer. Auf der Website der BIH finden Sie eine Übersicht.
Inklusionsbetriebe in Westfalen-Lippe
Inklusionsbetriebe sind mit rund 170 Betrieben und gut 4.300 Beschäftigten in Westfalen-Lippe weit verbreitet.
Eine Übersicht über die verschiedenen Betriebe finden Sie auf der Website des LWL-Inklusionsamts Arbeit.
Auf der LWL-Messe der Inklusionsunternehmen präsentieren sich im März 2026 eine Vielzahl an Unternehmen in Westfalen-Lippe. Mehr Infos gibt es auf der Website der Messe.
Weitere Artikel dieser Ausgabe
- Editorial von Androniki Petsos
- Titelthema: "Wir sehen großes Potenzial!"
- Erfolgsmodell Inklusionsbetrieb: Die Regel, nicht die Ausnahme
- Ausbildung: Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben
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Aus der Praxis
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Inklusionsbetrieb
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Menschen mit Schwerbehinderung