Präventionsverfahren in Wartezeit?

annette.rosenberg
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BAG, 03.04.2025, 2 AZR 178/24, Gründe I.8.

Beitrag von annette.rosenberg »

Artikel 27 UN-BRK
Artikel 5 RL 2000/78/EG

BAG, 24.01.2008 - 6 AZR 96/07 ­ ­ (= ÖD)
BAG, 21.04.2016 - 8 AZR 402/14 (= ÖD)
BAG, 03.04.2025 – 2 AZR 178/24 (≠ ÖD)

BAG hat geschrieben:Einer unionsrechtlichen Richtlinie - hier: der Richtlinie 2000/78/EG - kommt gegenüber Privaten keine unmittelbare Wirkung zu.
[BAG, 03.04.2025 – 2 AZR 178/24 – I.8]
Der Volltext des BAG, 03.04.2025 – 2 AZR 178/24 – wurde nun veröffentlicht. Für den öffentlichen Dienst von Interesse erscheinen die Gründe I.8. in Rn. 25 zur UN-BRK sowie zur unionsrechtlichen Richtlinie 2000/78/EG zu angemessenen Vorkehrungen. Damit hat sich das LAG Baden-Württemberg – 10 Sa 31/24, in einer anstehenden Berufung zu befassen.
|Zum Thema vgl auch Prof. Dr. Wietfeld, RdA 1/2025, Seite 49-54: „Präventionsverfahren und Betriebliches Ein­glie­de­rungs­­ma­na­ge­ment innerhalb der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG“; Prof. Düwell, Gute Arbeit, 4/2025, 37, Prävention und Teilhabe, Titel: „Präventionsverfahren: Was gilt in der Wartezeit?“ Ob LAG BW hier BAG folgen mag oder EuGH vorlegt - wie m.E. geboten - bleibt abzuwarten: Laut BAG-Gründe I.4 in Rn. 32 soll dem Beschäftigten die gesamte Darlegungslast angemessener Vorkehrungen aufgebürdet werden, die Betroffene gar nicht wissen können und die im Präventionsverfahren „zu erörtern“ gewesen wären: Dieser Neue in der Wartezeit hat schließlich nichtmal ansatzweise Überblick im Gesamtbetrieb wie etwa BR sowie SBV. Dies erscheint weder ausgewogen und fair noch gerecht, also klärungsbedürftig durch den EuGH . Zur Verletzung einer Vorlagepflicht an EuGH vgl. bspw. BVerfG, 08.11.2023 - 2 BvR 1079/20, welches den BFH (bzw. das BMF) gehörig „abwatschte“ wg. Nichtvorlage, wonach niemand seinem gesetzl. Richter entzogen werden darf. Das BAG darf nicht Gesetzgeber „spielen“ laut BVerfG und nicht den hier „klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers übergehen“ (vergl. BVerfG vom 0606.2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14) bzw. aushebeln in § 167 Abs. 1 und 2 SGB IX.

Hätte der Gesetzgeber etwa für Arbeitnehmer was anders gewollt (wie von BAG-Senaten unterstellt), dann hätte das der Gesetzgeber in § 84 SGB IX 2001 und § 167 SGB IX 2016 auch reinschreiben müssen, dass zB Prävention für sbM sowie BEM erst nach 6 Monaten obligat anzubieten seien. Beides hat er jedoch gerade nicht getan! Dieselbe Überlegung gilt für die Frage, ob BEM für Kleinstbetriebe verpflichtend. Anders als zum Beispiel in Kanada gibt‘s in Deutschland eben keine gesetzliche Vorgabe, dass BEM beispw. erst ab 25 Beschäftigte oder über 5 oder 10. Das beliebte „Argument“, wonach der Gesetzgeber die BAG-Rechtsprechung „in seinen Willen“ aufgenommen habe, besagt nichts und ist ohnehin nicht zwingend. Denn wenn auch nur ein einziger der 2 oder 3 oder 4 Koalitionäre nicht mag (z.B. FDP mit unter 12 Prozent 2021) - so läuft eben bekanntlich insoweit nichts wie sooft: Dieser Senat ar­gu­mentiert geradezu an der politischen Realität vorbei bzw. „fabuliert“ teils bei seiner historischen Auslegung: Das ist eher juristische Kaffeesatzleserei (unzulässige beliebige Schlussfolgerung) jedenfalls für Frage, ob Prävention und BEM ab dem ersten Tag der Beschäftigung oder nicht …

Den insoweit fundierten Gründen des LAG Köln, 12.09.2024 – 6 SLa 76/24 – Gründe II.5.e mwN – gebührt klarer Vorzug ggü. den drei nur wenig überzeugenden o.g. BAG-Senaten.

Viele Grüße
Annette
annette.rosenberg
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BAG, 03.04.2025, 2 AZR 178/24

Beitrag von annette.rosenberg »

Sonstige Beschäftigungsverhältnisse

Das BAG hat in Rn. 26 ausdrücklich offengelassen, welche Rechtsfolgen das Nichtergreifen angemessener Vor­keh­run­gen haben kann: Für die Entlassung von Proberichterinnen wurde das vom BGH-Dienstgericht längst höchstrichterlich geklärt schon vor Jahrzehnten! Inhaltliche Änderungen der damaligen Prävention lt. § 84 Abs. 1 SGB IX a.F. erfolgten seither offensichtlich nicht, also identisches Recht in § 167 Abs. 1 SGB IX neue Fassung.

Im Übrigen verkennt dieser Zweite Senat des BAG in seiner Argumentation offenbar, dass es bei Prävention nicht nur um Arbeitnehmer geht, sondern selbstverständlich z.B. auch um Beamte und Richter, bei denen das KSchG überhaupt nicht einschlägig ist: Eine ans KSchG „anknüpfende“ Norm ist für Beamte und Richter:innen natürlich sinnlos, zumal regel­mä­ßig viel viel längere Probezeiten dieser „Beschäftigten“ von mehreren Jahren laut KI sowie Wikipedia, und es ohnehin bekanntlich für Beamte und Richter keine solche Wartezeit von „sechs Monaten“ gibt - oder etwa doch!? Dieser § 167 SGB IX erfasst ganz zweifelsfrei auch öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse („sonstiges Beschäftigungsverhältnis“) laut allgemeiner Ansicht und nicht nur Arbeitsverhältnisse Man darf auf die Urteilsbesprechungen zu den einzelnen BAG-Gründen sowie seiner „Rechtsfortbildung“ gespannt sein, da am Text des § 167 SGB IX teils weit vorbei.

Vollends wirr, widersprüchlich sowie nicht nachvollziehbar, dass bei Prävention für Arbeitnehmer lt. § 167 SGB IX die von BAG-Senaten konstruierten Einschränkungen gelten sollen (erst nach 6 Monaten und ab 6 Beschäftigte), nicht aber für Beamte und Richter nach § 167 SGB IX laut BGH sowie nicht für die Pflichten gemäß § 164 Abs. 4 SGB IX - obwohl sich diese Normen in ein und demselben Kapitel 3 („Sonstige Pflichten“) befinden. Dass sich einzelne BAG-Senate gerne ihre Fristen „zurechtlegen“ am sehr klaren Gesetzeswortlaut vorbei (so z.B. BAG, 01.03.2007, 2 AZR 217/06: pauschal 3 Wochen statt differenziert laut SGB IX), ist in Literatur auf scharfe Kritik gestoßen (vgl. nur Düwell, LPK-SGB IX, § 173 Rn. 43; Gagel, Fachbeitrag B10/2008)

Viele Grüße
Annette
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