TIPP: BEM-Kompass 2019 und Fahrkosten bei Stufenweiser Wiedereingliederung (Urteile)

jada.wasi
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LSG Sachsen, 14.10.2022 - L 1 KR 320/20

Beitrag von jada.wasi »

Michael Karpf hat geschrieben: Sonntag 26. März 2023, 19:49 Es gibt eine weitere Entscheidung. Das LSG Sachsen hat mit Urteil vom 14.10.2022 - L 1 KR 320/20 - die GKV mit umfangreicher Begründung verurteilt, der Rehabilitandin Weg­stre­cken­ent­scho­di­gung in Höhe von 672,00 EUR zu zahlen für Fahrten zur Arbeitsstelle während ihrer StW.
Hallo zusammen,

die vom LSG verurteilte GKV hat den Antrag auf Fahrkosten nachweislich „verschlampt“, hat jedoch jahrelang behauptet, keinen entspr. Antrag erhalten zu haben. Das SG Chemnitz 18.05.2020 - S 36 KR 717/19, hat per Gerichtsbescheid den völlig abenteuerlichen und komplett irrelevanten Rechtssatz aufgestellt, dass keine Fahrkosten zu erstatten seien, weil kein „fristgerechter Antrag vor Beginn der Maßnahme“ nach­weis­bar sei. Das LSG Sachsen, 14.10.2022 - L 1 KR 320/20, hat im Ergebnis zwar zutreffend Fahrtkosten (Weg­stre­cken­ent­schä­di­gung) zu­er­kannt und die rechtswidrigen Bescheide der GKV zu Recht aufgehoben, seine Begründung erscheint m.E. aber teils ziemlich „abenteuerlich“. Man darf gespannt sein, ob die verurteilte GKV in Revision geht oder die Frist verstreichen lässt. Dieses LSG Sachsen meinte, dass die GKV alle Anträge an die (eigentlich) zuständige DRV hätte weiterleiten müssen - statt selbst zu entscheiden. Folgt man dieser Ansicht, wäre die DRV für die Genehmigung der StW und Fahrkosten zuständig gewesen mit Übergangsgeld und eben nicht diese GKV für die Anträge der arbeitsunfähigen Krankenschwester. „Revision“ wurde vom LSG zu­gelassen wegen „grund­sätz­licher Bedeutung“. Offenbar hat sich das Sozialgericht Chemnitz am Fehlurteil (Teilablehnung) des SG Düsseldorf vom 12.09.2016, S 9 KR 632/15, orientiert. Gruß Jada Wasi

:idea: Ermessensentscheidung ab 9/2022?
• Damit ist auch folgendes Konstrukt der DRV-Bund vom Tisch, wonach eine Fahrkostenerstattung allenfalls als Ermessensleistung in Betracht komme: „Daher können Kosten für Fahrten zur Arbeitsstelle gegebenenfalls nur im Rahmen einer Ermessenentscheidung nach § 31 SGB VI erstattet werden. Auf Abschnitt 2 dieser GRA und auf die GRA zu § 31 SGB VI, Abschnitt 2.2.3.2 sei hingewiesen.“
• Von einer derartigen (gesetzlichen) Rechtsänderung seit 01.09.2022 ist mir nichts bekannt. Zudem „ignoriert“ diese DRV die 4-jährige Verjährung laut § 45 SGB I: „Der Antrag auf Erstattung von Kosten für Fahrten zur Arbeitsstelle bei einer stufenweisen Wiedereingliederung muss bis zum Ab­schluss der stufenweisen Wiedereingliederung (ein­schließ­lich letzten Tag der SWE) gestellt werden.“ Willkür mE auch insoweit, als diese GKV Antrag vor Beginn der StW verlangt, die DRV hingegen vor Ablauf der StW. Da macht wohl jeder med. Rehaträger was er will – und Aufsicht schaut nur zu?

Fazit
Das LSG Sachsen hat sich demnach zu Recht nicht an o.g. GRA-Verwaltungsvorschriften DRV orientiert unter anderem zur vorgeblichen Ermessensentscheidung. Die beigeladene DRV hat sich zu diesem Punkt „ausgeschwiegen“, vielmehr pauschal behauptet: „Die stufenweise Wiedereingliederung stelle keine eigenständige Leistung zur medizinischen Re­ha­bilitation dar, sondern erfolge im Zusammenspiel mit einer bereits abgeschlossenen Hauptleistung.“ Daher sind auch solche „Experten-Antworten“ wie hier vom 08.11.2022 m.E. betont kritisch zu hinterfragen; auch DRV-Formular G0835 „Antrag auf Erstattung von Kosten für Fahrten zur Ar­beits­stelle anlässlich einer stufenweisen Wiedereingliederung“, weil es auf „außergewöhnliche Belastung“ nicht ankommt nach LSG Sachsen und LSG MV und SG Neuruppin vom 26.01.2017, S 22 R 127/14 (rechtskräftig) und SG Berlin, 29.11.2018, S 4 R 1970/18 – daher ist Frage hierzu nicht nötig und somit von vornherein unzulässig. Dieses ist aus meiner Sicht zudem grobe Verletzung des Datenschutzes, nicht erforderliche Daten zu erheben (laut Stand 12/2021) „Ohne Erstattung der Kosten ist die Durchführung der stufenweisen Wiedereingliederung gefährdet, weil …“ Wer hat sich so einen bürokratischen Unfug nur ausgedacht mit erfundenen Vorgaben wie Frist sowie außergewöhnlicher Belastung? Da versagt die Aufsicht!

DRV-Formular G0835 zur StW
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NB: Da diese GKV offenbar den Antrag auf StW sowie auf Fahrkosten nicht fristgerecht an die DRV weitergeleitet hat, dürfte die GKV wegen ihrer „Schusseligkeit“ wohl auf ihren gesamten Kosten sitzenbleiben, also „Lehrgeld“ zahlen, es sei denn, zwischen GKV und DRV gibts eine Vereinbarung über die Erstattung? (§ 16 Abs. 4 SGB IX) - ohne Gewähr! Demnach vermutlich „Vermögensschaden“ für diese GKV (z.B. Krankengeld statt richtig Übergangsgeld; Stufenplan; Fahrkosten) wegen Fristversäumnis der beklagten GKV. Vgl. ausführlich Dittmann, Anm. A18-2021, Nr. IV. 4 und 5, reha-recht.de, zu LSG MV, 28.05.2020 – L 6 KR 100/15 – wonach die rkr. verurteilte GKV (wohl) gleichfalls an die vorrangig zuständige DRV hätte weiterleiten müssen.
Michael Karpf
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Re: TIPP: BEM-Kompass 2019 und Fahrkosten bei Stufenweiser Wiedereingliederung (Urteile)

Beitrag von Michael Karpf »

Hallo zusammen,

die DRV windet sich nach wie vor und will die ober­ge­richt­li­che Rechtsprechung nicht anerkennen, ohne das sachlich zu begründen. Näheres hierzu ist nachzulesen im „Experten­forum“ der DRV zu Fahrkosten bei StW laut Rentenversicherung­s­recht i.V.m. SGB IX.

Viele Grüße
Dr. Michael Karpf
jada.wasi
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DRV-Formular zu Fahrkosten bei StW

Beitrag von jada.wasi »

Die Praxis:
04/2021 Alex
08/2022 UwPä
10/2022 Thomas


Michael Karpf hat geschrieben: Samstag 1. April 2023, 18:32 Die DRV windet sich nach wie vor und will die ober­ge­richt­li­che Rechtsprechung nicht aner­kennen, ohne das sachlich zu begründen
Hallo Herr Dr. Karpf,

dieser Eindruck drängt sich geradezu auf:

Ja - mit einer Begründung tut sich diese DRV schwer, da rechtlich mE nicht begründbar. DRV behauptet ins Blaue hinein statt zu begründen. Und sobald sich „Daten­schutz­aufsicht“ dieses „kreative“ Formular G0835 vornimmt, so kann das der DRV teuer zu stehen kommen – weil nicht benötigte persönl. „Daten“ teils erhoben, verarbeitet und gespeichert werden.

… und bei der höchstrichterlichen BSG-Rechtsprechung zur_StW „als Leistung zur me­di­zi­ni­schen Re­ha­bi­li­tation“ behauptet DRV lapidar, diese vorgeblich nicht zu kennen („hier nicht be­kannt“), obwohl sie selbst als Be­klagte vom BSG wiederholt verurteilt wurde u.a. 2008 (Rn. 20) sowie 2009 (Rn 38). Das erscheint durchsichtig, mutwillig sowie diskriminierend und dreist – so „rumzueiern“ seit über 10 Jahren. Das DRV-Merkblatt 03/ 2022 zu Fahrkosten hält daher offensichtlich keiner rechtlichen Überprüfung stand.
:shock: Diese exklusive m.E. willkürliche Auslegung gibt‘s so bei_keinen anderen med. Rehaträgern, soweit ersichtlich. Das kommt mir vor wie ein Staat im Staate, wo auch die Aufsicht wie BAS bzw BMAS kläglich versagt: Denn BSG, 20.10.2009, B 5 R 44/08 R, Rn 38, hat StW ausdrücklich als_DRV-Leistung und zwar als selbständige angesehen:
„ist StW Hauptleistung… als selbstständiger Maßnahme“. Der Grundsatz der „Einheitlichkeit“ der Reha-Gewährung im_SGB IX als Dachgesetz für die Reha begründet ggf. vorrangige Zuständigkeit der DRV ggü. GKV (BSG vom 29.01.2008 - B 5a/5 R 26/07 R, Rn. 26/27).

Entgegen der groben Fehleinschätzung der DRV sind die Fahrkosten bei StW eben keine Ermessensleistungen laut § 31 SGB VI, sondern Leistung im Sinne des § 73 SGB IX gemäß der langjährigen ständ. Instanzenrechtsprechung, was v. DRV aber derzeit offenbar (noch) ignoriert wird. Bei § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI ist schon der Tatbestand nicht er­füllt, da § 64 SGB IX offensichtl. gilt - auch für DRV lt. h.M. Vergl. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) so­wie_Prof. Dr. Nebe, Rechtsgutachten A19-2018 auf reha-recht. Kritisch auch Dr. Hartmut Haines † Ministerialrat im BMAS a.D. – der „freimütig“ den Verant­wort­li­chen bei den „Rehabilitationsträgern“ vormals bescheinigte: „Offenbar warten sie darauf, dass der Gesetzgeber ihnen bis ins letzte_Detail das kleine Einmaleins vernünftiger und bürgerorientierter Rechtsanwendung vorschreibt
Normenkette: § 28 Abs. 1 SGB VI ➔ § 73 SGB IX

Auch ist m.E. Grundsatz der Datensparsamkeit verletzt: erhoben, gespeichert und verarbeitet werden dürfen nur Daten, wenn und soweit diese im Rahmen einer gesetzl. Erfüllungsaufgabe zwingend erforderlich sind – sonst je­doch_nicht (wie teils bei der DRV): Auf die Frage, ob und warum ohne Erstattung der Fahrkosten die Durchführung der_StW „gefährdet“ ist, kommt es rechtlich gar nicht an! Demnach frei erfunden 2021 von der DRV und ohne jede Rechtsgrundlage laut Rspr. Der Widerspruchsausschuss wird_womöglich ablehnen, beim Sozialgericht schaut das jedoch ganz anders aus, weil ja unabhängige sowie nicht weisungsgebundene Richter: Die Version der DRV ist je­denfalls höchst unstimmiges Konstrukt, weil es ja dieses Tatbestandsmerkmal der Gefährdung nirgends gibt.

:idea: Praxistipps
Vor allem: Erhalten Sie Ablehnungen wie zB UwPä, Alex oder Thomas, dann m. E. unbedingt fristgerecht dagegen vorgehen z.B. mittels Begründung von Linda Albersmann. Erfolgsaussicht beim Sozialgericht schätze ich in solchen Fällen für sehr hoch ein - da die Gesetzeslage ja insoweit recht eindeutig bzw. längst ausgeurteilt ist. Bitte Ergebnis gerne hier posten, da von allg. Interesse. Und lassen Sie sich_nicht „abwimmeln“ bzw. nicht Rücknahme des Wi­der­spruchs „aufschwatzen“ und verweisen auch auf das von Dr. Karpf vorgestellte Grundsatzurteil des LSG Sachsen, 14.10.2022 – L 1 KR 320/20 – und dort (speziell) auf die „Entscheidungsgründe“ in Abschnitt 3.b zum „Recht der gesetzlichen Rentenversicherung“. Die übliche Einlassung der vom Senat „beigeladenen“ DRV, dass die stufenweise Wiedereingliederung „keine (eigenständige) Leistung zur medizinischen Rehabilitation“ sei – hat Berufungsgericht nicht akzeptiert (so u.a. auch Prof. Dr. Luik – Richter am BSG, LPK-SGB IX, § 44 Rn. 7 und 28, und Prof. Düwell, Senatsvorsitzender am BAG a.D. - Neues zur StW - in NZA 12/2020, Seite 767) und verurteilt nach „Recht der gesetzlichen Rentenversicherung“. Wehren sie sich wie bspw. Thomas, Alex, UwPä !!! So sieht es auch Prof. Dr. Kohte, wonach die „große Mehrzahl der Sozialgerichte“ verurteilt zu Fahrkosten bei StW. So wie diese DRV teils „rumschwadroniert“ – kommt sie damit in aller Regel bei Sozialgerichten nicht mehr durch. Viel Erfolg! Jada Wasi

Hinweise
DRV-Schriften Band 113 zu dem Deutschen Kongress für Rehabilitationsforschung, 2018, München, Seite 283 unten: „Die stufenweise Wiedereingliederung (StW) in Deutschland wird insbesondere durch den § 44 SGB IX geregelt. Diese sozialrechtliche Norm gibt den Trägern der medizinischen Rehabilitation den Auftrag, die rehabilitative Hauptleistung der StW durch medizinische und sie ergänzende Leistungen zu ermöglichen.“ Diesen gesetzlichen Auftrag ignoriert die DRV bei Fahrkosten bei StW: Das ist widersprüchlich!

• Luik, Fachtagung: Arbeit inklusiv gestalten, 8./9. Mai 2017, Berlin, Folie 31, zur StW: „Keine ergänzende Leistung, son­dern eigenständige Reha-Leistung (BSG 29.01.2008 - B 5a/5 R 26/07 R*)“. Das ignoriert die DRV bei Fahrkosten zur StW. Schließlich ist StW gerade nicht als „ergänzende Leistung“ gelistet in § 64 SGB IX – beispielsweise im Gegensatz zum „Übergangsgeld“, zum „Rehabilitationssport“ sowie zu den „Reisekosten“: Auch das wird vom LSG Sachsen komplett ausgeblendet und ignoriert wie vormals im Fehlbeschluss des LSG Thüringen, 01.08.2013, L 6 KR 299/13 NZB, mit völlig abwegigem Rechtsvergleich von 🍏 und Birnen,🍐 was in der Literatur 2022 scharf kritisiert wurde: Das LSG Sachsen und das LSG Thüringen haben das Konzept der StW seit 2001 noch immer nicht verstanden nach über 20 Jahren – ebenso wie Teile der med. Rehaträger wie bspw. BARMER 2020 („regelmäßig nicht“) und BKK-Freudenberg 2023 (vorgeblich „nicht möglich“).

• Und mit folgender rhetorischer Gegenfrage „Warum sollten Sie einen Anspruch auf Erstattung Ihrer Fahrtkosten haben? Ohne die Wiedereingliederungsmaßnahme würden Sie Ihre Fahrtkosten auch von niemandem erstattet bekommen“ hat die DRV seit Jahrzehnten pauschal gesetzliche Ansprüche kategorisch abgelehnt bzw. abgewimmelt, so als wäre StW eine bloße „Teilzeitbeschäftigung“ und keine Rehabilitation: Dieses ist eine (grob) illegale Vereitelung bzw. leichtfertige „Falschberatung“ von arbeitsunfähigen Versicherten - mit suggestiven Sprüchen!

Revisionen
Der pauschalen Darstellung im Jahresbericht dieses LSG Sachsen 2022 (Seite 6) ist insoweit klar zu widersprechen, wonach eine StW »keine Leistung der Rehabilitation« sei. Zumindest in zwei der drei Fälle sind jeweils Revisionen anhängig beim BSG (Versicherte gegen Krankenkassen)
anhängig BSG – B 1 KR 7/23 R (SG Dresden 2020)
anhängig BSG – B 1 KR 4/23 R (SG Leipzig 2021)


*) Luik, Fachtagung „Arbeit inklusiv gestalten“
Dateianhänge
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jada.wasi
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SG Leipzig, 09.03.2022, S 22 KR 570/21

Beitrag von jada.wasi »

Auch das Fehlurteil des SG Leipzig, 09.03.2022, S 22 KR 570/21 – ist nicht rechtskräftig. Berufung des behinderten Rehabilitanden (GdB 20) ist anhängig beim LSG Sachsen, Aktenzeichen: L 9 KR 102/22 (Divergenz zu der ständigen BSG-Rechtsprechung und h.M.) Gruß Jada Wasi

Hinweis
Dieses Sozialgericht hat bspw. den Stufenplan als auch die regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen während der StW ausgeblendet, die bekanntlich von der GKV zu finanzieren sind – beides Pflicht-Leistungen gesetzl. Krankenkassen und folglich medizinische Rehaleistung: Genau das ist der Denkfehler des SG Leipzig, welches lediglich die haltlosen Behauptungen der GKV unkritisch nachgeplappert hat. Die­ses Sozialgericht Leipzig verkennt u.a. Dienstleistung be­handelnder Vertragsärzte vor und während der gesamten Dauer der StW und zentrale Rolle sowie Verantwortlichkeit der Ärzte für Stufenplan – mit regelm. Untersuchungen. Zu Stufenplänen BAG, Urteil vom 13.06.2006 - 9 AZR 229/05. »Auf eine daneben gleichzeitig gewährte "Hauptleistung" kommt es nicht an, BSG SozR 4 - 3250 § 51 Nr. 1« nach LSG Niedersachsen-Bremen, 21.09.2011 – L 7 AL 94/10; ebenso nicht auf eine zuvor gewährte "Hauptleistung" der Krankenkasse.

Folgende Tatsachenbehauptung dieses SG Leipzig ist dem­nach frei erfunden: „Die Krankenkasse gewährt, abgesehen von der durch fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bedingten Krankengeldzahlung, dabei gerade keine eigene Leistung.“ Wie kann man nur so einen wirren Rechtssatz in Ur­teils­be­grün­dung schreiben? Das ist grobes Justizversagen an der Wirklichkeit vorbei! Da ist dem BSG auch keine »begrifflich ungenaue Gleichsetzung unterlaufen« – sondern dem SG Leipzig ein »Denkfehler«: Der untersuchende Vertragsarzt ist_selbstverständlich zu vergüten von der GKV nach dem Kassenarztrecht. Grundlage der StW ≠ BEM entgegen GKV-Behauptung, da die StW selbstverständlich auch ohne BEM verordnet werden kann. Also ohnehin nicht zwingende be­ziehungs­weise er­fundene Be­hauptung, da BEM mitnichten gesetzliche Voraussetzung für StW ist - zumal das BEM ja erst 2004 eingeführt wurde, also Unsinn dieser GKV auch insoweit.

Begriffliche Unschärfe?
Man darf gespannt sein, ob der Neunte Senat (LSG Sachsen - L 9 KR 102/22) der fragwürdigen Rechtsprechungslinie des Ersten Senats (LSG Sachsen, Urteil v. 21.09.2022 - L 1 KR 365/20) folgt – oder jedoch aussetzt bis zur wohl erst frü­hes­tens 2024 anstehenden Revision des BSG – B 1 KR 7/23 R, was aber längerem Stillstand der Instanzenrechtsprechung gleichkäme – obwohl m.E. (längst) höchstrichterlich geklärt laut Prof. Dr. Luik vom Bundessozialgericht: „eigenständige Reha-Leistung (BSG, 29.01.2008 - B 5a/5 R 26/07 R)“ und bspw. auch BSG, 20.10.2009 – B 5 R 44/08 R, Rn. 38 und Siegfried Wurm (AOK Rhein­land/Ham­burg) – § 73 SGB IX Rz. 84, sowie BMAS von 2019 und BAR-Wegweiser 2022 (Seite 63), wonach StW eine »Leistung der medizinischen Rehabilitation« ist: Dies alles wurde von diesen Leipziger Sozialrichtern verkannt – und BSG-Senaten und LSG MV lapidar begriffliche Ungenauigkeit unterstellt. Die vom SG Leipzig zitierten BSG-Bundesrichter Waßer und Welti zur Belastungserprobung stehen der Ansicht des SG Leipzig zu_Fahrtkosten bei StW jedenfalls - diametral - entgegen, ebenso u.a. DVfR-Glossar. Diese Leipziger Richter haben Prozessstoff m.E. nicht mal ansatzweise verstanden, sind auf_Rechtsstand vor SGB IX 2001 stehen geblieben, und stiften damit nur Verwirrung: Zwar durchaus über­zeu­gend getextet auf dem ersten Blick – jedoch nur gut formulierte „Unwahrheit“: Seit 1. 7. 2001 wurde speziell für Reisen im Zusammenhang mit zulasten der ­- GKV - durch­geführten »Rehaleistung« gerade »der Leistungs­rah­men erheblich erweitert«. Siegfried Wurm, Schell (BMAS), SGB IX § 73 Rz. 11 und 12. Das alles hat SG Leipzig nicht bedacht.
Michael Karpf
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SG Koblenz, 24.04.2023, S 11 KR 418/21

Beitrag von Michael Karpf »

SG Koblenz, 24.04.2023,
S 11 KR 418/21
http://www.dejure.org/2023,11664

Das Sozialgericht Koblenz hat in einer Entscheidung vom 24.04.2023 – S 11 KR 418/21 – die Klage auf Erstattung der Fahrkosten bei StW eines sbM mit folgender Tat­sa­chen­be­haup­tung abgelehnt: »Entscheidend ist, dass es sich bei der StW nicht um eine medizinische Leistung handelt. Weder der Ren­ten­ver­­si­che­rungs­trä­ger im Falle der Über­gangs­geldgewährung noch die Kran­ken­kas­se im Falle der Kran­ken­geld­zah­lung erbringen während und auch nicht im Rahmen der StW eine me­di­zi­ni­sche Leistung.«

Diese Anknüpfung greift nicht durch und lässt außer Acht, dass 1. ärztliche Festellungen für einen Stufenplan obligat sind und 2. re­gel­mä­ßi­ge ärztliche Un­ter­su­chun­gen zwin­gend während der Dau­er der StW als „Dienst­leis­tun­gen“ der GKV gleich­falls zu er­brin­gen sind durch GKV-Ver­trags­ärzte. Das haben ganz offenbar auch die beiden eh­ren­amt­li­chen „La­ien­rich­ter:innen“ nicht erkannt:

Rechtsgrund­la­ge für die StW ist die AU-Richtlinie, Stand 01.04.2023, die auf § 92 SGB V beruht und für Vertragsärzte verbindlich ist nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 AU-Richtlinie. Es handelt sich demnach keinesfalls nur um eine bloße un­ver­bind­li­che Em­pfeh­lung. Laut Nr. 5 dieser ver­bind­li­chen „Empfehlungen zur Um­set­zung“ der StW müssen „wäh­rend der Pha­se“ einer jeden StW die „ge­sund­heit­li­chen Aus­wir­kun­gen“ der StW „in re­gel­mä­ßi­gen Abständen“ me­di­zi­nisch untersucht werden. Insoweit besteht ein un­be­streit­ba­rer Leistungs­be­zug!

Demnach ist die Behauptung des SG Koblenz, dass keine Grundlage im SGB V existiere für eine GKV-Dienst­leis­tung im Zu­sam­men­hang mit einer StW, nicht haltbar. Das in der SG-Entscheidung vorgetragene „Ar­gu­ment“, dass am „Arbeitsplatz“ im Betrieb oder auf der Baustelle kei­ne „ärztliche Be­hand­lungs­maß­nah­men durchgeführt“ werden (Rn. 37), ist konstruiert. Denn auf den Ort der vorgeschriebenen begleitenden ärztlichen Untersuchung der Versicherten während der Phase der stufenweisen Wiedereingliederung kommt es selbstverständlich nicht an.

Viele Grüße
Dr. Michael Karpf
jada.wasi
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Sach- bzw. Dienstleistung bei StW

Beitrag von jada.wasi »

StW = Stufenweise Wiedereingliederung


Der Feststellung von Dr. Karpf zur Verbindlichkeit der AU-Richlinie einschließlich „Anlage“ zur StW so­wie zum „Leis­tungs­be­zug“ bei StW ist voll zuzustimmen. Demnach also zweifellos Sach- und Dienstleistung iSd § 2 Abs. 2 SGB V Das LSG MV sieht diese reine Rechtsfrage als erschöpfend aus­ge­ur­teilt an - und hat folglich keine Revision zu­ge­las­sen nach § 160 SGG.

Der „steilen“ These des SG Koblenz, 24.04.2023, S 11 KR 418/21, in Rn. 37, wonach bei DRV-Zuständigkeit für StW vor­geb­lich keinerlei Leis­tungs­be­zug be­ste­he, steht jedoch LSG Sachsen, 14.10.2022, L 1 KR 320/20, Ent­schei­dungs­grün­de 3.b. klar entgegen – wonach „Rechts­an­spruch“ auf Fahrkosten bei StW besteht laut DRV-Recht. Das mehrfach von dem SG Koblenz zitierte Fehlurteil des SG Leipzig vom 09.03.2022 – S 22 KR 570/21, ist nicht rechtskräftig wegen Berufung des be­hin­der­ten Re­ha­bi­li­tan­den. Die Ansicht der beklagten GKV (SG Koblenz, Rn. 24), wonach der Antrag verspätet gestellt worden sei („weil er die Fahrtkosten erst nach Abschluss der Maßnahme beantragt habe“), ist völlig abwegige Behauptung ins Blaue hinein an ständiger Rspr. vorbei (vgl. z.B. SG Kiel, 04.11.2016, S 3 KR 201/15): Da hat_sich diese GKV (insoweit) offenbar am Fehlurteil des SG Düsseldorf, 12.09.2016 - S 9 KR 632/15, orientiert be­züglich grob rechtswidriger Teilablehnung; diese Beklagte hat_ihre Berufung beim LSG NRW zurückgenommen.

Folgende Fehleinschätzung dieses SG Koblenz, Rn. 31, hält_ohnehin weder einer tatsächlichen noch rechtlichen Überprüfung stand, zumal in § 74 SGB IX ja auf die AU-Richtlinie nach § 92 SGB V ausdrücklich verwiesen wird jedenfalls seit 11.05.2019:
SG Koblenz (Rn. 31) hat geschrieben:Eine Leistung der Krankenkasse ist in § 74 SGB V nicht geregelt (so insgesamt zutreffend SG Leipzig, Urteil vom 09.03.2022 – S 22 KR 570/21 = juris, Rn. 15, sowie SG Leipzig, Urteil vom 08.09.2021 – S 22 KR 100/21 = juris, Rn. 16).

Dass die StW „ohne ärztliche Aufsicht und Verordnung“ erfolge, wie es das SG Koblenz in Rn. 29 sowie 37, als Tatsache unterstellt, entbehrt jeder Grundlage und wi­der­spricht ohnehin zwingender Vorgabe des BAG, wonach eine_„ordnungsgemäß“ ärztlich verordnete stufenweise Wiedereingliederung per „lückenlosem“ Stufenplan und nur_nach Untersuchungen in „körperlicher, geistiger und seelischer“ Hinsicht rechtlich unerlässlich ist für jede StW, auch für Bewilligung durch Rehaträger.

Was sagt das Ministerium?
»…Ihr Arzt beobachtet dabei permanent den Verlauf der Wiedereingliederung: Brauchen Sie für Bewältigung einer Stufe länger oder kürzer, besteht Möglichkeit das Tempo des_Fahrplans Ihrer Gesundheit anzugleichen. Generell muss der Stufenplan immer wieder der Wirklichkeit an­ge­passt werden … Regelmäßige ärztliche Untersuchungen sind Teil der Wiedereingliederung.« Auch Anpassung des Wiedereingliederunsplans ist selbstverständlich Leistung des_medizinischen Rehaträgers - entgegen SG Koblenz. Gruß Jada Wasi
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