BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

magdalena.mayer
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BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von magdalena.mayer »

Hallo zusammen,

welche der 2 BIH-Versionen ist richtig zur räumlichen Nähe? Gibt es denn einen Grund für diese beiden unterschiedlichen Verknüpfungen (und/oder)? Wie ist damit laut „Gesetzen der Logik“ umzugehen? Das ist doch in sich widersprüchlich – weil ja von vornherein unterschiedliche Ergebnisse, oder?

BIH-Fachlexikon 2022
„(Faustformel: 50 Kilometer und 1 Stunde Fahrtzeit) und weniger als 50 Wahlberechtigte beschäftigt werden (§ 177 Absatz 6 Satz 3 SGB IX iVm § 18 SchwbVWO). Die Wahl findet in diesen Fällen entweder auf einer Wahlversammlung der wahlberechtigten sbM statt oder im Anschluss an eine digitale Wahlversammlung per Briefwahl.“

BIH-Themenseite 2022
„Unter 50 km Radius oder unter 1 h Anreise zur Betriebsstätte“ = Vereinfachtes Wahlverfahren.
Auch BIH-Aussage: „In der Regel unter 50 wahlberechtigte Arbeitnehmer“ erscheint höchst fragwürdig, weil sich nichts davon im Gesetz (SGB IX) sowie Recht (BAG) findet: Da ist nirgends die Rede von „in der Regel“ und „Arbeitnehmern“, sondern von „Beschäftigten“, und natürlich auch nichts von Radien („Radius“). Begriffliche Fehlgriffe?
albarracin
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Re: BIH-Thesen zu vereinfachten Wahlen?

Beitrag von albarracin »

Hallo,

die mir bekannte Literatur lehnt "feste Entfernungswerte" als Kriterium grundsätzlich ab. (zB Düwell in LPK-SGB IX, § 18 SchwbVWO Rn 9)

Stattdessen wird auf die "verkehrstechnische Anbindung" von Strassenverbindungen und ÖPNV abgehoben. Es kommt darauf an, ob es den Wahlberechtigten des räumlich entfernten Betriebsteils anahnd der realen Verkehrsverbindungen überhaupt zumutbar ist, an einer Wahlversammlung teilzunehmen. Und dabei muß ein "strengerer Maßstab" (Düwell in LPK-SGB IX, a.a.O. Rn 10) angelegt werden, der auch die oft eingeschränkte Wegefähigkeit von behinderten Beschäftigten sowie eine ggfs. eingeschränkte oder nicht vorhandene Barrierefreiheit der Anbindung berücksichtigt.
&tschüß
Wolfgang
CVedder
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Re: BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von CVedder »

Guten Tag,

das mit den 50 Kilometern und oder einer Stunde betrachte ich großzügig. 50 Kilometer Landstraße mit kleinen Ortsdurchfahrten, Traktoren und Holzlangtransportern kann schnell in 90 Minuten münden. Auf der anderen Seite schaffe ich die mitunter auch in knapp 30 Minuten. In Zeiten von weit verbreiteter Videokonferenzkommunikation betrachte ich diese Entfernungs- und Zeitlimitierungen nicht mehr angemessen.

Schöne Grüße
Christian Vedder
matthias.günther
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Re: BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von matthias.günther »

Hallo Herr Vedder,

wir hatten doch einige SBV, die vom "hybriden" vereinfachten Wahlverfahren Gebrauch gemacht haben, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Die Teilnahme gestaltet sich so ja doch für viele einfacher, gerade wenn man sonst mobil arbeitet oder Homeoffice hat. Ich glaube nicht, dass die 40 oder 50 km genau abgemessen haben.
Wie der "strengere Maßstab" aussehen soll, wenn es ÖPNV-Verbindungen gar nicht gibt, lässt Herr Düwell ja offen. Ich hatte mir seine Broschüre zur Wahl der SBV in der aktuellen Auflage besorgt und mir einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erhofft, bin aber schwer enttäuscht davon. Für die Wahl-Praxis und die damit verbundenen Fragen von Personen, die mit der Vorbereitung und Durchführung der SBV-Wahl befasst sind, finde ich die Broschüre nicht besonders hilfreich. Die korrekte Anwendung der §§ ist zwar eine Säule der Wahl, ohne Lösungen für die Praxis als zweite Säule geht aber nix. Nur meine Meinung. Ich zitiere mal F. Schulz von Thun: "Juristische Korrektheit geht oft an der psychologischen Wahrheit vorbei." Die SchwbVWO spiegelt die Arbeitswelt der 1970er Jahre der alten BRD. Diese Welt ist schon lange untergegangen. Ohne Anpassung der Wahlordnung an die heutige Arbeitswelt wird es bei der nächsten Wahl noch viel mehr Probleme in der Praxis geben.
magdalena.mayer
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BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von magdalena.mayer »

Hallo zusammen,

BIH hat geschrieben:Unter 50 km Radius oder unter 1 h Anreise ...
wer hat sich denn sowas ausgedacht ?
Gibts denn dafür irgendwelche Belege?


Davon ist mir nichts bekannt: Woraus sollte denn folgen, dass_entweder das eine oder das andere? Dieser BIH-Ansicht steht m.E. bspw. die ständ. Rspr. klar entgegen, wonach bei Reisezeit von i.d.R „mehr als einer Stunde“ niemals vereinfachte Wahl (Behindertenrecht 6/2004). „Lösungen für die Praxis“ am Gesetz vorbei sind reiner Irrweg und selbstv. nicht zweite Säule des Wahlrechts, sondern eher „Anfechtungsfalle“. Habe ich noch nie in Seminaren von so einer „Formel“ gehört oder gelesen, von_keinem Seminarleiter und auch keinem Autor.

matthias.günther hat geschrieben: Freitag 2. Dezember 2022, 08:40 Ich glaube nicht, dass die 40 oder 50 km genau abgemessen haben.
Warum sollte man denn hier auf so eine Idee kommen ?
Warum sollte da jmd. was messen und warum „genau“?

Maßgeblich dürfte im Wesentlichen der „zeitliche Aufwand“ sein, nicht die bloßen Entfernungen zwischen den einzelnen Betriebsteilen. Der § 18 SchwbVWO wird teils unbeachtlich sein, da sein Wortlaut (richtig: „weit“ statt „weiter“) klar und weit über das Gesetz „hinausschießt“. Dieses wurde schon 1990 offensichtlich im BMAS übersehen. Es dürfte folglich auf die „Lage aller Betriebsteile zueinander“ ankommen und nicht lediglich jeweils zur „Hauptbetriebsstätte“ des Betriebs sowie nicht lediglich zum jeweil. Ort der Wahlversammlung.
Nach dieser Oder-Version soll „Radius unter 50 km“ stets eine vereinfachte Wahl gebieten – egal wie lange die Reise dauert: Ist m. E. völlig unlogisch bzw. absolut unvereinbar mit ständ. Rspr. aller Instanzen bereits seit Jahren (so auch Dr. Sachadae, in LPK-SGB IX, § 18 SchwbVWO Rn. 5).

BIH hat geschrieben:In der Regel unter 50 wahlberechtigte …
Das steht so nicht im Gesetz:

Es kommt beim Schwellenwert nicht darauf an, ob „in der Regel“ < 50 Wahlberechtigte, da maßgeblich nur Zeitpunkt der Einleitung der SBV-Wahl (Sachadae LPK-SGB IX, §18 SchwbVWO Rn. 12), d.h. rein stichtagsbezogen laut BAG und gerade nicht „in der Regel“ – was im SBV-Wahlrecht bekanntlich überhaupt nicht vorkommt – und zwar weder als_Paragraph noch als Grundsatz, dh frei erfunden. Zu dem unbest. Rechtsbegriff „in der Regel“ beschäftigt vgl. auch BAG, 19.10.2022 - 7 ABR 27/21 - unter Aufhebung der_Fehlbeschlüsse der zwei Kölner Vorinstanzen.

Diese 3 neuen BIH-Punkte • Regel • Arbeitnehmer • oder sind demzufolge m.E. alle drei voll abzulehnen laut BAG sowie Literatur, da u. a. viel zu pauschale Einzelmeinung (Wiegand/Hohmann, SchwbVWO, § 18 Rn. 7) und durch nichts zu rechtfertigen – insbesondere auch nicht durch vermeintl. „psychologische Wahrheiten“ oder sonst zum Wahlrecht laut § 177 Abs. 6 Satz 3 SGB IX. Von Rechts wegen! Einen solchen Rechtssatz, wonach bei unter 50 Wahlberechtigten und bei < 50 km immer vereinfacht zu wählen sei, gibt es nicht laut ständ. Rspr. Vgl. z.B. DGB-Rechtsprechungsübersicht, AiB 12/2005, Seite 759, zu »räumlich weit entfernt« - wonach eben keine derartige schematische Anwendung nach „Schema F“ zulässig.
Leider ist kein einziger dieser 3 Punkte praxistauglich - sondern m.E. alle drei offensichtlich falsch! Derartige pauschalen Thesen hier zu vertreten (die ja keinerlei Nachprüfung standhalten) finde ich schon sehr mutig und_zumindest dringend korrekturbedürftig laut BAG und_einhelliger Rspr. schon seit über 20 Jahren und ebenso wie hier besteht (über ½ Dutzend Mal zur aktiv. Wahlberechtigung) zwingender Korrekturbedarf laut h.M.
Nach BAG vom 17.05.2017 – 7 ABR 21/15, zum BetrVG gilt: Auch ein nur 11 km entfernter Betriebsteil kann räumlich weit entfernt sein. Dabei soll es z.B. lt. Auslegung des BAG nicht auf »neuere« IT-Kommunikationsmittel ankommen für Wahl-Praxis entgegen BIH-Wahlbroschüre, Kap. 4.1.2, S. 57. Die zwei widersprüchlichen BIH-Versionen sind mE irreführend, weil sie sich teils ja gegenseitig ausschließen. Auch ist mir nicht wirklich klar, was hier eigentlich konkret mit „Radius“ gemeint ist bei mehreren Betriebsteilen (Radius um was?) beispielsweise etwa bei drei oder mehr Betriebsstätten und Betriebsteilen in ausgedehnten weitläufigen Wahlbezirken.

rolf.gollnick hat geschrieben: Dienstag 5. Juni 2018, 09:57 … Die Beurteilung der räumlichen Entfernung muss sich daher m. E. auf die am weitesten voneinander entfernten Betriebe/Betriebsteile beziehen und nicht auf die Entfernung der einzelnen Betriebe/Betriebsteile zum Wahlort.
Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen laut Rspr.:

Vgl den fundierten Beitrag des „Moderators“ Rolf Gollnick mit Verweis aufs BAG zu mehrteiligen Betrieben, der alles sehr verständlich auf den Punkt bringt - und sich dabei mit gesetzl. Regelungszweck befasst speziell für SBV-Wahl – was von „entscheidender“ Bedeutung für Bewertung ist (ebenso Wiegand / Hohmann, SchwbVWO, § 18 Rn. 9), zuletzt bekräftigt sowie bestätigt durch BAG 2014 zum Gesetzeszweck für originäre örtl. SBV-Wahlen (Rn. 21).
Vergl. BAG, 21.06.1995 – 2 AZR 693/94 – Rn.25, wenn die Verkehrsanbindung mit öff. Verkehrsmitteln beschwerlich ist und etwa wg. geringer Löhne nicht vom Vorhandensein von Pkw bei allen ArbN ausgegangen werden kann (22 km). Die Rspr. tendiert also demnach zu einer „strengeren Linie“ (so entspr. Gaul, HWK4, § 4 BetrVG, Rz. 6 Fußnote 18). Das mit < 1 Std. mag zwar zutreffen für räumliche Nähe, keinesfalls aber zwingend bei < 50 km laut ständiger Rechtsprechung aller Instanzen auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Anschluss verloren
Laut Vorsitzendem des unabhängigen Beratungsgremiums der BReg. für Bürokratieabbau u. Rechtssetzung rächt sich jetzt, dass man die Digitalisierung der Verwaltung "schlicht versemmelt" habe – so kürzlich der neue Vorsitzende des „Normenkontrollrats“ der Bundesregierung, da BRD ja seit Jahren auf hinteren Plätzen in Europa „dahindümpeln“ soll. Besserer Mobilfunk an den Bahnlinien soll erneut um Jahre verschoben werden laut einer heutigen Meldung. Insoweit ist_Deutschland vergleichsweise (leider) noch immer eher ein abgehängtes „Entwicklungsland“ nicht nur entlang der 30 .000 Schienenkilometer im „Schneckentempo“. Lange wurde viel angekündigt im Funklochland Deutschland für ländl. Regionen – dann aber nur gekleckert statt geklotzt. Nun ist die Rede von einem heillosen Durcheinander und sogar von einem „Kollaps“. Und die Bundesregierung will Zeitplan für Digitalisierung nach 5 Jahren aufgeben und im OZG ersatzlos streichen. Berlin und Saarland bilden das_Schlusslicht. Auch Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Bremen und Hamburg hängen besonders zurück. ZDF: Deutschland ist Papierverschwendungsweltmeister. Die analoge Arbeitswelt ist noch lange nicht untergegangen - jdfs. nicht überall in Deutschland in allen “Amtsstuben“. Die Bilanz ist miserabel … teils mit viel Wildwuchs. „Bei den meisten wichtigen Behördengängen bleibt alles beim Alten. Das heißt: beim Analogen.“

Digitalisierungsdschungel
Doch von den insgesamt 575 Verwaltungsleistungen sind lediglich 33 in Deutschland flächendeckend online verfügbar laut BMI. „Letztlich ist das ein Koordinierungsversagen der öffentlichen Hand". "Der größte Kritikpunkt ist, dass der Bund nicht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, Standards zu setzen", sagt der Vorsitzende des Normenkontrollrats, Lutz Goebel, und ein Softwarewildwuchs bei den 11.000 deutschen Kommunen. "Jeder hat einfach losdigitalisiert." Erinnert zum Beispiel an chaotische Corona-Digitalisierung in_Gesundheitsämtern, wo jeder machte was er wollte und vielfach analog. Ampelkoalition: „stark nachgelassen“ bei Digitalisierung unter anderem wegen Kompetenzgerangel und Zuständigkeitschaos …

Die Verkündungsplattform...
Lichtblick: Immerhin soll ab 2023 das Bundesgesetzblatt (BGBl) endlich digital als ausdruckbare sowie kopierbare PDF-Datei (kostenfrei) online veröffentlicht werden unter www.recht.bund.de
Michael Karpf
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Re: BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von Michael Karpf »

Maßgeblich dürfte im Wesentlichen der „zeitliche Aufwand“ sein, nicht die bloßen Entfernungen zwischen den einzelnen Betriebsteilen.
Hallo zusammen,
im Wesentlichen teile ich die Auffassung von "magdalena.mayer".

Beim Maßstab für „räumlich weit auseinanderliegende Teile“ oder für „räumliche Nähe“ ist auch die Verkehrsanbindung zu betrachten. Dabei spielt beispielsweise eine Rolle, ob häufig mit Staus zu rechnen ist oder ob ein Shuttle-Service des Betriebs existiert. Beim ÖPNV kann bedeutsam sein, wie es um die Barrierefreiheit bestellt ist (z.B. Bahnhof mit/ohne Aufzug), wie oft umzusteigen ist, wie es mit Wartezeiten auf Anschlusszüge und der Frequenz des ÖPNV für Hin- und Rückfahrt aussieht, und natürlich, wie lang der jeweilige Fußweg zur Haltestelle und zurück ist.

————————————————-
Checkliste:
• Häufige Staus?
• Frequenz des ÖPNV?
• Barrierefreiheit ÖPNV?
• Zuzüglich Wegezeiten?
• Wie oft ist umzusteigen?
• Wartezeit Anschlusszug?
• Shuttle-Service des Betriebs?

Quellen:
https://www.dgb.de/themen/++co++mediapo ... 215c#page2

Viele Grüße
Dr. Michael Karpf
Heidi Stuffer
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BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von Heidi Stuffer »

Hallo zusammen,

Michael Karpf hat geschrieben: Dienstag 13. Dezember 2022, 21:49 Beim Maßstab für „räumliche Nähe“ ist auch die Verkehrsanbindung zu betrachten.
dieser Darstellung von Dr. Karpf ist voll zuzustimmen:
Das BAG hat zur „räumlichen Nähe“ in seiner PM vom 19.04.2004 zum AZ.: 7 ABR 42/03, explizit klargestellt:
„Das ist dann nicht mehr der Fall, wenn persönliche Kontaktmöglichkeiten aller Belegschaftsmitglieder untereinander nur unter Aufwendung von Kosten und Reisezeiten von mehr als einer Stunde denkbar sind.“

Daraus folgt, dass gerade keine räuml. Nähe, falls bspw. zwar Entfernung unter 50 km – jedoch über eine Stunde Reisezeit im Allgemeinen benötigt wird, z. B so wie hier entgegen der zumindest missverständlichen BIH-Grafik.
Reisezeiten umfassen ggf. beim ÖPNV auch Zeiten der Fußwege zu und von den Haltestellen und natürlich ggf. auch_Wartezeiten auf Anschlusszüge. Auf den Radius (=Luftlinie) kommt’s ohnehin nicht an - entgegen dieser vierfach „missverständlichen“ BIH-Grafik laut ständiger Rechtsprechung: Dieser „Entscheidungsbaum“ bedarf dringender Korrekturen: ( „in der Regel/Arbeitnehmer“ und_„Radius/oder“) – weil ja offenbar falsche Begriffe, Formeln bzw. Verknüpfungen, also 4-fach falsch und anfechtungsrelevant. Diese BIH-Verlautbarung 2022 widerspricht klar ständiger Rspr.

matthias.günther hat geschrieben: Freitag 2. Dezember 2022, 08:40 Wie der "strengere Maßstab" aussehen soll, wenn es ÖPNV-Verbindungen gar nicht gibt, lässt Herr Düwell ja offen.
Das lässt sich doch unschwer aus der ober- sowie der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Arbeits- sowie Verwaltungsgerichtsbarkeit ableiten. Die Gerichte sind jedenfalls eindeutig bei den maßgeblichen Kriterien:

Das folgt bspw. u.a. aus BAG v. 14.01.2004 - 7 ABR 26/03: Keine Anhaltspunkte dafür, wonach Teile der Beschäftigten beispielsweise etwa aufgrund der Beschäftigtenstruktur auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Und im Übrigen stammt die zitierte Kommentierung zu § 18 SchwbVWO gar nicht v. Prof. Düwell – sondern bekanntlich v. Dr. Sachadae, nachzulesen in LPK-SGB IX, § 18 SchwbVWO Rn. 10. Hier wurde im Forum mehrfach falsch bzw. unpräzise zitiert.

Auf Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt’s aber dann an, wenn die Verkehrsanbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln beschwerlich bzw. unmöglich ist und zB wg. der Beschäftigtenstruktur aufgrund geringer Löhne nicht das Vorhandensein von (privaten) PKWs bei allen Beschäftigten etwa in Teilzeit vorausgesetzt werden kann (grdl. BAG vom 21.06.1995 – 2 AZR 693/94, Rn. 25 und 27 am Ende). Eine verallgemeinerungsfähige Grenzziehung nach Entfernungs­kilometern oder Radien z. B. so wie hier – ist demnach klar verfehlt – weil viel zu pauschal (Rn. 25 m.w.N.) Allerdings nirgends in BIH-Wahlbroschüre zitiert, obwohl Revision von grundsätzlicher Bedeutung. Von einem Radius auszugehen ist auch deshalb verfehlt, da niemand „querfeldein“ verreist zwischen zwei Betriebsteilen per Pkw, Bus oder Bahn.

Beste Grüße
Heidi Stuffer
jada.wasi
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BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von jada.wasi »

matthias.günther hat geschrieben: Freitag 2. Dezember 2022, 08:40 Wir hatten doch einige SBV, die vom "hybriden" vereinfachten Wahlverfahren Gebrauch gemacht haben, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Die Teilnahme gestaltet sich so ja doch für viele einfacher, gerade wenn man sonst mobil arbeitet oder Homeoffice hat. Ich glaube nicht, dass die 40 oder 50 km genau abgemessen haben.
Hallo zusammen,

🔥 wer das macht, „spielt mit dem Feuer“, weil lt. aktl. Rechtslage klar ausgeschlossen. Hierzu gibt der klare Wortlaut „Wahlversammlung“ per Video- und Telefon­konferenz des § 20 Absatz 5 SchwbVWO nach wie vor überhaupt nichts her. Grundlegend hierzu Dr. Sachadae, LPK-SGB IX, § 28 SchwbVWO a.F. – Rn. 18. Ferner z.B. Dr._Rabe-Rosendahl, DVfR-Beitrag B9-2022 zu digitaler Wahlversammlung nach § 20 Abs. 5 SchwbVWO n.F. auf reha-recht: „Die Durch­führung als Hybridveranstaltung, d.h. ein Teil der Wahlberechtigten erscheint in Präsenz und der andere Teil schaltet sich digital dazu, ist nach aktueller Gesetzeslage dagegen nicht möglich.“ Hätte hier dieser Verordnungsgeber was anderes gewollt, so hätte er das explizit zulassen bzw. regeln müssen. Das hat er jedoch bekanntlich offenbar nicht getan, sondern eben nun mal anders normiert. Vergl. hierzu auch diese Diskussion im Wahlforum. Einzuladen ist folglich entweder so oder so.

Diese Variante ist offensichtlich unzulässig. Ebenso auch WAF und IFB, wonach hybride Wahlversammlung ausgeschlossen ist; a.A. jedoch wohl BIH-FAQ, Stand: 7.4.2022 ( „als Hybridversammlung nicht grundsätzlich ausgeschlossen ….. Hybride Veranstaltungen mit einer Gruppe von Wahlberechtigten in Präsenz und mehreren Wahlberechtigten vor einer Webcam“) – aber ohne jede konkrete Begründung für diese Einzelmeinung in „freier Rechtsfindung“. Einen derartigen „Grundsatz“, dass eine Hybridversammlung „nicht ausgeschlossen“ sei, sehe ich gerade nicht für die Online-Wahlversammlung - mangels Rechtsgrundlage in § 20 SchwbVWO (und zuvor in § 28 SchwbVWO a.F.). Folgt auch nicht aus den „Materialien“ zur_Änderungsverordnung 2022. Zur Rechtsfrage einer hybriden Wahlversammlung siehe auch i­fb-Praxistest 1, wonach unzulässig. Soweit im „Kontext“ mit § 20 Abs. 5 SchwbVWO von hybriden vereinfachten Wahlverfahren pauschal die Rede ist, so erscheint das im Forum eher „zweideutig“ und womöglich auch missverständlich für Wahlleitungen bzw. Schwerbehinderten­vertretungen: Kann_man nur mit Rufzeichen versehen und doppelt unterstreichen!

matthias.günther hat geschrieben: Freitag 2. Dezember 2022, 08:40 Die korrekte Anwendung der §§ ist zwar eine Säule der Wahl, ohne Lösungen für die Praxis als zweite Säule geht aber nix. Nur meine Meinung.
Der Meinung ist energisch zu widersprechen, da der klare Wille des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers nicht ignoriert werden darf im Rechtsstaat wie hier (u.a. Leiharbeit) und hier (u.a. Abordnung) und hier (ggf. Doppelwahlrecht laut LAG München zu „betriebsintegrierten“ Arbeitsplätzen) !!!

@BIH-Autoren
Stimme der differenzierten Ansicht von Dr. Karpf und Heidi Stuffer zur Rechtsfrage der räumlichen Nähe voll zu, dass pauschale Grenzziehung nach Entfernungs­kilometern oder gar Radien (Radius worum auch immer?) abzulehnen ist lt. herrschender Meinung, sowie RSpr. Die gegenteilige BIH-Darstellung in dem Entscheidungsbaum 2022 muss daher überprüft und sollte möglichst (zeitnah) bereinigt werden – weil m.E. „in die Irre“ führend bzw. Anfechtung droht, da wahlrechtlich durch nichts zu rechtfertigen nach aktueller Rechtsprechung – auch nicht durch die oben erwähnten „psychologischen Wahrheiten“. „Praxislösungen“ an der aktuellen BAG-RSpr. vorbei („Reisezeiten von mehr als einer_Stunde“) daher grds. kritisch. Gruß Jada Wasi
Zuletzt geändert von jada.wasi am Dienstag 27. Dezember 2022, 19:50, insgesamt 1-mal geändert.
Michael Karpf
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Re: BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von Michael Karpf »

wer das macht, „spielt mit dem Feuer“
Hallo zusammen,

ich teile die Ansicht von Jada Wasi, dass der Verordnungsgeber mit der durch § 20 Abs. 5 SchwbVWO zugelassenen Alternative keine hybride Wahlversammlung eingeführt hat, und habe die Befürchtung, dass hybrid durchgeführte Wahlversammlungen anfechtbar sind.

Viele Grüße
Dr. Michael Karpf
matthias.günther
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Re: BIH-Thesen zum Wahlverfahren?

Beitrag von matthias.günther »

dass der Verordnungsgeber mit der durch § 20 Abs. 5 SchwbVWO zugelassenen Alternative keine hybride Wahlversammlung eingeführt hat
dem ist zuzustimmen. Seitens der BIH wurde jedenfalls kein "hybrides" Wahlverfahren kommuniziert. Vgl. Kapitel 12 der aktuellen Wahlbroschüre. Was indes in den Betrieben und Dienststellen dann passiert ("wir machen das trotzdem so") liegt nicht mehr in der Verantwortung der Integrationsämter.
Bisher sind mir für unseren Zuständigkeitsbereich (zum Glück) keine Fälle bekannt geworden, in denen es bei einem solchen Verstoß zu einer Wahlanfechtung gekommen ist.
Ich gehe davon aus, dass die wertvollen Anregungen hier im Forum, die Verbesserungsvorschläge und die konstruktive Kritik bei einer Neuauflage der Wahlbroschüre berücksichtigt werden.

Die psychologischen Wahrheiten, wenngleich bei einigen Foristen unbeliebt, zeigen sich gerade an diesem Beispiel sehr deutlich:
Die Vorschriften des SGB IX und der SchwbVWO werden als zu kompliziert wahrgenommen und "auf eigene Faust" im Betrieb zurechtgebogen, damit die erlebte Inkohärenz beseitigt werden kann. Hilfestellungen z. B. in Form des Wahlkalenders, der Broschüre und Schulungen sowie hier im Forum gab es jedenfalls, dazu noch viel Material und Literatur außerhalb der BIH.
Wir haben auch dieses Jahr im Zusammenhang mit den Wahlen wieder sehr viele Anfragen bekommen. Fast alle bezogen sich auf rein praktische Probleme bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen. Vieles konnte mithilfe des BIH Wahlkalenders für die Anwender gelöst werden.
Es zeigte sich aber auch ganz deutlich, dass die komplexen Vorschriften abschreckend wirkten und oft einen direkten Einfluss darauf hatten, ob überhaupt noch Kandidaten für das Amt der VP und der Stv. zu finden waren. Überhaupt habe ich die erschwerte Kandidatengewinnung als ganz wesentliches Problem der diesjährigen Wahlen wahrgenommen, stehen jedenfalls in meiner Rangliste der anonym gesammelten Fragen auf Platz 1 noch vor den Fragen zum Wahlverfahren. Neben dem o. g. Faktor spielen hier auch veränderte Strukturen (Beschäftigte verstärkt im Homeoffice, Aus- und Nachwirkungen der Corona-Einschränkungen) und das ungelöste Problem der Freistellung im "erforderlichen Umfang" eine Rolle. Wer als SBV um jede Minute für das Mandat kämpfen muss, weil der eigentliche Job ja auch noch da ist und der Arbeitgeber vom § 179 Abs. 4 SGB IX gar nichts wissen will, tut sich viel schwerer damit, wieder zu kandidieren. Das Dilemma mit der nie ausreichenden Freistellung von 5 - 99 sbM ist denn seit Jahren auch ein ganz wesentlicher Punkt, der von ratsuchenden SBV zu Recht beklagt wird.
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